Der Krieg und Du

Noch muss in Deutschland niemand in den Bunker. Wir sollen aber alle ein bisschen so tun als ob. Symbolbild: fsHH auf Pixabay (Public Domain)

Deutsche Kriegsmoral und Mobilmachung fiktiver Subjekte: Wie das Volk auf den Kurs der Führung eingeschworen wird

Am 24. Februar, dem Morgen nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, tritt die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock mit folgenden Worten vor die Kameras:

Liebe Mitbürgerinnen und liebe Mitbürger, wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht. (...) Wir haben uns diese Situation nicht ausgesucht. Wir können und wir wollen ihr nicht aus dem Weg gehen. Die Europäische Friedensordnung der letzten Jahrzehnte ist die Grundlage für das Leben in Wohlstand und Frieden. Wenn wir jetzt nicht entschlossen dafür eintreten, werden wir einen noch höheren Preis zahlen.


Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90 / Die Grünen) am 24. Februar 2022

Frau Baerbock berichtet vom Beschluss des Kabinetts, sich in diesem Krieg zu engagieren und dem russischen Machtanspruch in Osteuropa entgegenztreten. Das kollektive "Wir", in dessen Namen sie spricht, ist zunächst das der Regierung. Für die souveräne Instanz, die die für alle verbindlichen Entscheidungen im Land trifft, nimmt sie in Anspruch, dass sie eine Freiheit der Entscheidung gar nicht gehabt habe.

Das große "Wir"

Sie fingiert staatliche Ohnmacht, um die Macht unwidersprechlich zu machen, mit der sie handelt: Die Welt, die Lage, die Russland hergestellt hat, lässt ihr keine Wahl; alles, was das heutige Deutschland ausmacht – Europa, Wohlstand, Frieden – steht auf dem Spiel; "Wir" sind angegriffen, "wir" müssen dagegenhalten.

Die Herausforderung anzunehmen und mit der Förderung der ukrainischen Kriegsfähigkeit zu beantworten, ist eine Notwendigkeit: Dieser Krieg ist unser Krieg. Mit dieser Botschaft wendet sich die Ministerin an das weitere "Wir", die "lieben Mitbürger", die vom osteuropäischen Krieg selbst nicht, dafür aber vom Beschluss ihrer Regierung, sich einzumischen, betroffen sind. Für sie gibt es tatsächlich keine Freiheit der Entscheidung, denn über sie ist entschieden worden.

An sie ergeht die Aufforderung, genau dieses Verhältnis zu dementieren: Sie sollen so tun, als hätten sie etwas zu entscheiden und als hätten sie sich entschieden. Jeder Einzelne soll "unseren Krieg" als seine Sache begreifen und Stellung beziehen; soll sich von der "militärischen Sonderoperation" Russlands herausgefordert fühlen, Putin für seinen Feind halten und sich überlegen, wie er handeln würde, wenn er Kanzler oder eben Außenministerin wäre.

Natürlich fällt alles Praktische und Wirkliche, was "die Deutschen" aus dem Krieg in der Ukraine folgen lassen, in die Kompetenz, die Zwecke und Zweckmäßigkeitserwägungen der Regierung. Aber das darf die Bürger nicht hindern, sich als Mitbetroffene von dem Krieg und Mit-Subjekte der deutschen Antwort auf ihn zu imaginieren; auch wenn die Stellung, die sie dann beziehen, völlig belanglos ist und – sieht man einmal von den Verrückten ab, die selbst zum Mitkämpfen nach Kiew reisen – praktisch in gar nichts anderem bestehen kann als in der mehr oder weniger entschiedenen Billigung der Einmischung des deutschen Staates ins blutige Geschehen und im Aushalten ihrer Konsequenzen.

Dazu müssen die vielen fiktiven Mit-Subjekte einer deutschen Stellung die Kriegskalkulationen der Bundesregierung überhaupt nicht kennen. Es reicht, dass sie sich als das große, vom Krieg betroffene "Wir" ansprechen und die längst entschiedene Frage nach "unserer" korrekten Stellung dazu vorlegen lassen.

So werden die von ihrem Staat in eine Kriegslage hineingezogenen Bürger mit ihrem Staat identifiziert und identifizieren sich mit ihm, wenn der "zwei Flugstunden von Berlin entfernt" die eine Kriegspartei aufrüstet, um der anderen ihren Krieg kaputtzumachen. Das ist die erste unwahre Gleichsetzung, auf der der öffentliche Kriegsdiskurs beruht.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) fügt dem sinngemäß einen leitenden Gesichtspunkt hinzu: Für all das gibt es keine Rechtfertigung. Das ist Putins Krieg. Putin bringt damit Leid und Zerstörung über seine direkten Nachbarn. Wir stehen an der Seite der angegriffenen Ukraine. Ihr mit Waffenlieferungen zu ihrer legitimen Selbstverteidigung zu verhelfen, ist keine Kriegsbeteiligung und keine Eskalation, so Scholz sinngemäß bei verschiedenen Gelegenheiten.