"Der Lockdown führt zu verzögerten Behandlungen von akuten Erkrankungen"

Covid-19-Patient auf Intensivstation. Bild: DoD/CC BY-2.0

Prof. Michael Pfeifer, Präsident des Lungenarzt- und Beatmungsmedizin-Verbandes DGP, über Systemkritik, Sparzwänge, Demos und Depressionen

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Professor Dr. med. Michael Pfeifer gilt weltweit als Koryphäe im Bereich der Pneumologie, der Lungen- und Atemwegsheilkunde. Der Internist ist Chefarzt und Medizinischer Direktor der hochspezialisierten Regensburger Klinik Donaustauf - Zentrum für Pneumologie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Leiter der Pneumologie am Universitätsklinikum Regensburg (UKR), welches unter anderem auf die Intensivversorgung von Lungenkrebspatienten spezialisiert ist. Ein besonderer Schwerpunkt der Klinik- und Forschungsarbeit Prof. Pfeifers ist neben der Maximalmedizinalisierung zur Akut-Lebensrettung die intensive Einbeziehung sozialer, seelischer und gesellschaftlicher Lebensumstände wie Traumaerfahrungen, Existenzängste und erlebte Todesgefahren in die persönliche Rehabilitation seiner Patienten, die seiner Meinung nach zu wenig Platz findet im jetzigen Medizinsystem der Marktzwänge - zumal im Rahmen von Covid-19.

DGP-Präsident Prof. Pfeifer gehört zu den 25% der Ärzteschaft, die bereit sind, Zuwendungen der Industrie offenzulegen gegenüber dem Journalisten-Kollektiv correctiv. Die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) ist einer der größten und ältesten Facharztverbände der Welt, kooperiert heute u.a. mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, der American Thoracic Society und Patienten-Initiativen, besonders hoch ist der Frauenanteil mit 37%. Außergewöhnlich war die offensive Aufarbeitung der DGP zur deutschen Barbarei der einst jüdisch und sehr demokratisch, dann NS-geprägten Vorgängerverbände, die den Holocaust mitorganisierten und die Euthanasie offensiv propagierten.

"Sorgen bereitet mir die Personalsituation"

Experten und Politik gingen noch im Frühjahr von erheblichen Opferzahlen bzw. von einer Zahl von über einer Million Intensivpatienten durch Covid-19 innerhalb einer Dreimonatsfrist aus. Wird Ihnen als wohl renommiertestem Spezialisten in Deutschland "mulmig", wenn Sie an solch eine Situation denken?

Michael Pfeifer: Mulmig schon - aber auch zuversichtlich, dass wir es wie im Frühjahr schaffen werden. In vielerlei Hinsicht sind wir besser darauf vorbereitet: Erfahrung, dass es leistbar ist, mehr Wissen über die Erkrankung selbst, bessere Konzepte der Behandlung und wirksame Medikamente, die zwar keine heilende Wirkung haben, aber helfen, das Krankheitsgeschehen besser zu kontrollieren. Alles das stand uns zu Beginn der Pandemie nicht zur Verfügung.

Ist das wirklich für die Krankenhäuser bzw. die Intensivabteilungen zu bewältigen?

Michael Pfeifer: Wir werden voraussichtlich mehr Patienten in den Krankenhäusern behandeln als in den Frühjahrsmonaten. Viele davon werden so krank sein, dass eine intensivmedizinische Behandlung erforderlich ist. Die apparative Ausstattung und die Zahl von Intensivbetten werden dabei nach den aktuellen Hochrechnungen nicht der limitierende Faktor sein.

Sorgen bereitet mir die Personalsituation - uns fehlen intensivmedizinisch erfahrene Fachkräfte für die Versorgung all dieser potentiell vorhandenen Intensiv-Kapazitäten. Zum anderen können wir nicht erwarten, dass dieser enorme Kraftakt, den das Personal in den Krankenhäusern, auch psychisch, zu Beginn der Pandemie geleistet hat, in der gleichen Weise wiederholbar ist, zumal wir jetzt voraussichtlich über eine monatelange Belastung sprechen.

Die absoluten Zahlen im Moment sind hochdramatisch, die Kanzlerin spricht von "drohendem Unheil", einige Experten relativieren aber … Rechnen Sie mit vielen Toten auch in Deutschland oder auch in den Nachbarländern, welche dann verschuldet sind durch die unzureichende (Personal-)Ausstattung in den Kliniken?

Michael Pfeifer: Nein, das befürchte ich nicht - aber wir werden an die Grenzen kommen.

Prof. Dr. Michael Pfeifer. Bild: Klinikum Donaustauf

"Wir müssen sehr darauf achten, nicht zu Lasten anderer erkrankter Menschen zu handeln"

Das heißt, es wird auch Tote geben durch die Kapazitätsengpässe, also Patienten, die gar kein Covid-19 in sich tragen, aber deren Behandlung nun aufgeschoben wird, etwa Lungenkrebspatienten?

Michael Pfeifer: Das ist eine der wesentlichen Herausforderungen. Im Frühjahr konzentrierten sich die ganzen Aktivitäten in den Krankenhäusern darauf, Kapazitäten zu schaffen, um Covid-19 Patienten zu behandeln. Wir wussten damals alle nicht, was auf uns zukommt. Das hat zu einer Art "Lockdown" in den Kliniken geführt. Nicht dringende Operationen wurden abgesagt, die Ambulanzen nahmen keine Patienten mehr auf, Stationen wurden leergeräumt, die Versorgung von anderen Patienten beschränkte sich auf Notfälle.

Jetzt ist es die Aufgabe und die wesentliche Herausforderung, die Regelversorgung so weit wie möglich neben der Versorgung der COVID-19 Patienten aufrechtzuerhalten. Natürlich wird es in vielen Kliniken eine Verschiebung geben, aber wir müssen sehr darauf achten, nicht zu Lasten anderer erkrankter Menschen zu handeln. Dabei müssen wir uns mit einem Dilemma auseinandersetzten: Kommt es zu einem nicht kontrollierten Infektionsverlauf, wird das Gesundheitssystem überlastet, sodass die allgemeine medizinische Versorgung der Bevölkerung gefährdet ist, mit Folgen sowohl für Covid-19 Patienten wie auch für Patienten mit anderen Erkrankungen wie z.B. Krebserkrankungen.

Daher sind die aktuellen politisch beschlossenen Maßnahmen aus meiner Sicht konsequent und richtig, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Andererseits haben wir in den ersten Monaten der Pandemie auch gesehen, dass der Lockdown mit häuslicher Isolation zu verzögerten Behandlungen von akuten Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall mit den entsprechenden gesundheitlichen Schäden geführt hat. Das ist eine Situation, die uns bewusst sein muss. Das erfordert eine hohe Flexibilität und hohe Anforderungen an das medizinische, aber auch an das nicht-medizinische Personal in den Kliniken wie auch in den Praxen.

"Ältere Menschen haben sich in den letzten Monaten besser geschützt als jüngere"

Das Augenmerk liegt im Moment auf erkrankten Covid19-Patienten in jüngerem Alter? Sind die Älteren jetzt weniger gefährdet? Kinder dagegen scheinen kaum betroffen ...

Michael Pfeifer: Tatsächlich sind aktuell mehr jüngere Patienten erkrankt - aber die Infektionen nehmen auch bei den Älteren steil zu, die weiterhin gefährdet sind, sich zu infizieren und nach den Erfahrungen im Frühjahr auch die Gruppe von Erkrankten darstellen, die besondere schwere Verläufe zeigen mit einer höheren Sterblichkeit. Ältere Menschen haben sich in den letzten Monaten besser geschützt als jüngere, die ja deutlich mehr soziale Kontakte im Alltag und in der Freizeit haben. Dagegen scheinen sich Kinder weniger anzustecken oder werden nicht so krank.

In Berlin wurde ein Krankenhaus für bis zu 1000 Patienten in Rekordzeit errichtet - ähnlich wie in Wuhan. Hilft das?

Michael Pfeifer: Das ist als eine Vorsichtsmaßnahme zu sehen und wir hoffen, dass ein solches Krankenhaus nicht in Betrieb gehen muss. Umso wichtiger ist die konsequente Umsetzung der allgemeinen Maßnahmen, um einen weiteren Anstieg der Infektionszahlen zu verhindern und eine unkontrollierte Ausbreitung zu verhindern.

Sind denn die ad-hoc-Maßnahmen der Politik im Medizin- und Klinik-Bereich überhaupt ausreichend nach Ihrer Einschätzung? Ist wirklich eine Art Schnellausbildung von Normal-Pflegern zu Intensivpersonal möglich?

Michael Pfeifer: Das sehe ich zwar kritisch, aber unter der Supervision einer Intensivfachkraft ist eine allgemein ausgebildete Pflegekraft in der Lage auch kritisch erkrankte Patienten zu versorgen.