Der Mann, der Jack Carter erfand: Ted Lewis, Meister des Brit Noir

Seite 2: Höllenfahrt

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"Penthouse was dead", sagt der Ich-Erzähler Carter. "I’d killed the Standard twice." Die deutsche Übersetzung schickt sich an, uns das zu erklären wie bei vielen Stellen, die der womöglich ein bisschen dumme Leser sonst nicht verstehen könnte: "Die Illustrierte kannte ich schon auswendig, und den ‚Standard’ hatte ich zweimal durchgepflügt." Natürlich ist das gemeint. Carter ist mit seiner Reiselektüre durch, auch die mehrfach gesehenen Bilder geben nichts mehr her. Nur: So steht es da nicht, weil das nun mal ein Text mit literarischem Anspruch ist, der vorbeireiten will, was noch kommen wird. Der Tod sollte nicht aus dem Vokabular entfernt werden, auch wenn das Penthouse-Magazin und der Standard nicht gestorben sind. Die von Lewis gewählten Vokabeln "dead" und "killed" ergänzen den schwarzen Anzug. Carter fährt zur Beerdigung seines Bruders. Jack Carter ist außerdem ein Villain, also ein Berufsverbrecher, der im Auftrag seiner Bandenchefs Menschen einschüchtert, verprügelt, ihnen das Gesicht zerschneidet und auch nicht vor Mord zurückschreckt. In seiner Person fährt der Tod nach Doncaster und von da nach Scunthorpe, und das in doppelter Hinsicht.

Get Carter

Die drei Zigaretten ("nails"), die Jack noch übrig hat, sind Sargnägel, nicht die Glimmstengel der deutschen Übersetzung: die Nägel zum Sarg seines toten Bruders und auch zu seinem eigenen, dies allerdings nicht im Sinne der Warnhinweise auf der Zigarettenschachtel, die es damals nicht gab. Carter wird im Laufe seiner Reise in den Norden und in die Vergangenheit mehrere Menschen töten und dann selber an einer Stichwunde sterben. Wer sich jetzt ärgert, weil ich den Schluss verraten habe: Keiner von Lewis’ Krimis endet glücklich für die Hauptfigur. Das wird einem schon sehr früh klar. Lewis’ Welt ist zu düster für ein Happy Ending. Es ist auch unerheblich, wer der Mörder ist. Carter wird herausfinden, dass fast alle aus dem Umfeld seines Bruders Frank eine Schuld an dessen Tod trifft: seine Tochter, seine Geliebte, den Besitzer des Pubs, in dem Frank am Tresen gearbeitet hat, den Mann, mit dem Jack und Frank aufgewachsen sind, Jack selbst und sogar Franks Ehefrau, die vor Jahren mit pakistanischen Einwanderern durchgebrannt ist.

Get Carter

Die Kriminalhandlung ist das Vehikel, mit dessen Hilfe die Beschreibung deprimierender gesellschaftlicher Zustände transportiert wird. Das bedeutet nicht, dass man beim Lesen depressiv werden müsste. Angesichts eines englischen Kriminalromans, der jahrzehntelang den Mord im Landhaus durchexerzierte, damit alles so bleiben konnte wie es war, hat Jack’s Return Home etwas Befreiendes. Bei Agatha Christie sind die Mörder und/oder ihre Opfer in der Regel diejenigen, die nicht zu hundert Prozent "englisch" sind, um sie auf diese Weise aus dem fiktionalen Königreich hinauszuexpedieren, damit die pensionierten Offiziere, die Landadeligen und die sonstigen Stützen der sich abdichtenden Gesellschaft am Ende wieder unter sich sind. Wollte man in Jack Carters Welt alle Figuren eliminieren, die im klassischen Detektivroman schlecht gelitten sind (oder höchstens als Gesinde), ergäbe das ein furchtbares Gemetzel. "Obwohl in England angesiedelt und von einem Engländer geschrieben", sagt Mike Hodges, der Regisseur der kongenialen Verfilmung, in seinem Vorwort zur im Herbst erscheinenden Neuauflage des Romans, "war er (abgesehen vom Regen) das Gegenteil von ‚typisch englisch’. Wichtiger war, dass er die rosarote Brille herunterriss, durch die die meisten Leute unser gemeinsames Heimatland sahen." Wo immer Jack Carter in den Zug steigen mag: in Paddington ganz sicher nicht.

Für Christie-Fans: In The A.B.C. Murders behauptet eine der Figuren, von Paddington nach Cheltenham (westlich von London) fahren zu wollen und wird später einer Falschaussage überführt, weil der Mann in Euston Station gesehen wurde, von wo aus er nach Doncaster fuhr. Wenn man den ersten Carter-Roman als eine lebendige, nach außen (auch hin zu Agatha Christie) offene Form begreift und nicht als abgeschlossenes Konstrukt zwischen zwei Buchdeckeln, könnte man in Erwägung ziehen, Jack abwechselnd in King’s Cross und Euston aufbrechen zu lassen, von Ausgabe zu Ausgabe. Das würde gut zu Hodges’ Verfilmung passen, wo wir Michael Caine als Carter in der ersten Einstellung - nach einem Stück Schwarzfilm - hoch oben im Fenster einer Penthousewohnung in London sehen als würde er schweben. Danach verschwindet er hinter einem dunklen Vorhang, was sein weiteres Schicksal vorwegnimmt ("Curtains for Caine", sagt Hodges im Audiokommentar der DVD).

Wir sitzen jetzt jedenfalls nicht mit Mrs. McGillicuddy oder mit Miss Marple im Zug, sondern mit Jack Carter (vierzig Minuten vor Doncaster), und durch das Fenster sehen wir nicht den Mord an der Schwägerin von Emma Crackenthorpe aus Rutherford Hall, sondern rußgeschwärzte Wände. So ist das bei einer Höllenfahrt. Lewis baut erst die Fingernägel in seinen Text ein, dann die Sargnägel, schließlich die Zehennägel, die Jack schneiden will, weil sie zu lang geworden sind. Jeder Leser von Edgar Allan Poe weiß, dass die Nägel nach dem Tod weiter wachsen. Mit Jack Carter fährt nicht nur ein Killer in das Industrierevier im Norden, sondern eine Leiche. Als er in King’s Cross (oder Euston) in den Zug steigt, ist er schon so gut wie tot. Mike Hodges, der den Roman genau gelesen und sich für die Verfilmung ein modifiziertes Ende ausgedacht hat, setzt Jack den Auftragskiller ins Abteil, der ihn nach erfolgter Rache für Franks Tod erschießen wird.

Im Roman (und auch im Film) ist - neben dem Tod - das Klassensystem der Reisebegleiter. Draußen ziehen die geschwärzten Hauswände vorbei. Leute wie Jack Carter kommen traditionell aus den Slums, in denen das Recht des Stärkeren gilt. Mit dem Villain Carter sitzt das Produkt einer durch die wirtschaftlichen Verhältnisse erzeugten Parallelgesellschaft im Zug, einer Gesellschaft, die nach eigenen Regeln funktioniert und für die Polizisten Agenten zur Durchsetzung der Interessen der oberen Schichten sind - was, historisch betrachtet, nicht so falsch ist. Kein Wunder, dass es so stickig ist in diesem Abteil, das Jack Carter für sich allein zu haben glaubt.

Glühende Phantasien

Was sind das für "schwach erhellte Wolken", von denen in der Übersetzung die Rede ist? Wie hat man sich das vorzustellen? Wolken im Scheinwerferlicht des Zuges? Fällt Licht aus den Fenstern der Häuser auf die Wolken? Sind die Hinterhöfe illuminiert? Sucht die Luftabwehr den Himmel mit Scheinwerfern ab? Nichts davon. "Half-light clouds" sind Wolken in der Dämmerung. Beschrieben wird ein Sterbeprozess. Die Scheiben fangen an, sich zu beschlagen, es wird langsam dunkel, Jack Carter fährt in die Dämmerung seines Lebens. Lewis spielt gern und oft auf Filme an. Deshalb darf man hier an die Toten in The Ladykillers denken, die mit dem Zug nach Norden fahren. Die von Alec Guinness angeführten Räuber entsorgen die anfallenden Leichen (und damit sich selbst), indem sie diese von einer Eisenbahnbrücke beim Bahnhof King’s Cross in die Waggons der Güterzüge werfen, die Rohstoffe aus den Industrierevieren nach Süden gebracht haben und leer zurückfahren. Carter, durch seine Tätigkeit als Villain in London wohlhabend geworden, fährt erster Klasse, nicht im Güterzug. Ein Toter könnte er trotzdem sein.

Get Carter

Bei einer Reise, die an einem Donnerstag beginnt, in einem Bahnhof mit dem Kreuz im Namen, ist es auch nicht ganz abwegig, an das Christentum zu denken, an die Passionsgeschichte. Donnerstagabend trifft Carter in Scunthorpe ein (letztes Abendmahl; das Abendgebet am Gründonnerstag leitet die Feier der drei österlichen Tage ein), am Sonntag stirbt er. Eine Wiederauferstehung wie am Ostersonntag ist das natürlich nicht. Carter ist ein Mörder, kein Erlöser. Der Roman erzählt nicht von einer Apotheose, sondern von einer Fahrt in die Hölle. Die erleuchteten Wolken gibt es dann wirklich, dies aber nicht vierzig Minuten vor Doncaster wie in der Übersetzung, sondern nach dem Umsteigen und dem Hereinbrechen der Dunkelheit, bei der Anfahrt des Anschlusszuges auf Scunthorpe, Jack Carters Heimatstadt. Durch das Fenster sieht Jack ein Glühen am Himmel, als würde hinter einem Hügel ein Heuschober oder ein Öltanker brennen:

Und etwas später fährt der Zug durch eine Schneise zwischen den Hügeln und in einem Bogen auf die Stadt zu, ein kleines Lichtfeld konzentrierter Helligkeit, und hinter der Stadt und um sie herum kann man die Ursache des Glühens sehen, das halbe Dutzend sich bis zum Rand des halbkreisförmigen Talkessels erstreckender Stahlwerke, die nach oben schießenden Flammen - die zarten, an den Innenseiten der Schmelzöfen pulsierenden Rottöne, die Funken sprühende Weißglut in den Hochöfen - die schwarzen Umrisse der Werksgebäude vor dem Hintergrund des kollektiven Glühens, all das sieht aus wie eine Disney-Version vom Anbeginn der Schöpfung.

Das ist einer dieser Lewis-Sätze - hier lang und atemlos statt kurz und trocken (und bitte nicht in vier Einzelsätze aufzubrechen wie in den deutschen Buchausgaben) -, die im Kopf des Lesers sofort die zugehörigen Bilder entstehen lassen, wenn er die Anspielungen erkennt. White Heat (Weißglut - in Deutschland mit den blöden Verleihtiteln "Maschinenpistolen" und "Sprung in den Tod" geschlagen) ist einer der letzten klassischen Gangsterfilme (Raoul Walsh, 1949). James Cagney spielt Cody Jarrett, einen unter rasenden Kopfschmerzen leidenden Bandenchef mit Mutterkomplex, der am Ende auf einen riesigen Öltank flüchtet und die berühmt gewordenen Sätze "Made it, Ma! Top of the world!" hinausschreit, ehe er beim finalen Shootout mit dem Tank in die Luft fliegt. Einem Villain wie Carter, dem bei der Anfahrt auf die Stadt ein brennender Öltanker in den Sinn kommt, sollte das eine Warnung sein.

White Heat

Die Disney-Version von der Entstehung der Welt findet man am Anfang von Fantasia. Walts Versuch, das große Publikum mit seiner eigenen, mitunter seltsame Blüten treibenden Begeisterung für die klassische Musik zu erfüllen, indem er (bearbeitete) Kompositionen von Beethoven, Strawinski, Schubert usw. mit animierten Musikvideo-Phantasmagorien unterlegte, war 1940 grandios gescheitert und hatte Disney seinen schlimmsten Flop beschert. 1969, drei Jahre nach Walts Tod, trat das Werk doch noch seinen Siegeszug an. Fantasia lief nun in prall gefüllten Kinos, weil die kiffende Jugend etwas auf der Leinwand entdeckte, das so nicht beabsichtigt gewesen war: einen psychedelischen Film mit barbusigen Zentaurinnen, mit Seifenblasen und Krokodilen tanzenden Nilpferden im Tutu und Magic Mushrooms. Die Welt entsteht aus abstrakten Formen Oskar Fischingers, und das von Leopold Stokowski dirigierte Orchester spielt Bachs Toccata und Fuge in d-Moll dazu.

Fantasia

Aufgrund des erfolgreichen Neustarts von Fantasia im Jahr davor durfte Lewis 1970 also auf Leser spekulieren, die bei der Anfahrt auf Scunthorpe die Musik von Bach im Ohr haben würden. Es folgen dann allerdings keine die neu geschaffene Welt verzaubernden Elfen wie beim Meister der Verniedlichung, sondern Einblicke in eine Hölle auf Erden, angesiedelt im englischen Nordosten. Das Infernalische hat dabei nicht nur mit dem eher oberflächlichen Vergleich zwischen südenglischen Gartenlandschaften (oder, für ZDF-Zuschauer: dem Cornwall der Rosamunde Pilcher) und einem Industrierevier zu tun, der sich im Kopf des Lesers vielleicht einstellen mag. Erzählt wird vielmehr eine Geschichte der Ausbeutung auf allen Ebenen: des Nordens durch den Süden, der Frauen durch eine männlich dominierte Pornoindustrie, der Arbeiter durch ein Wirtschaftssystem, das neben den legalen Profiteuren auch die Gangster nach oben spült. Die Ausbeutung der Bodenschätze hat Geld in die Stadt gebracht, die sich immer weiter ausdehnen würde, wenn nicht ein Ring aus Stahlwerken ihr Wachstum begrenzen würde. Ein Teil des Geldes wird an die innerhalb des Rings in Sozialwohnungen lebenden Arbeiter abgegeben und von den "governors", den Chefs der in Bezirken und Einflusssphären organisierten Unterwelt, wieder abgeschöpft, weil diese die Kneipen und Vergnügungsetablissements, das Glücksspiel und die Prostitution kontrollieren. Auch dieser Kreislauf des Geldes hat etwas Teuflisches. Ted Lewis hat sich damit einen Platz auf der Liste mit den besten Krimis über die korrupte Stadt verdient, zusammen mit Dashiell Hammetts Red Harvest, Jonathan Latimers Solomon’s Vineyard, Ross Macdonalds Blue City und einigen anderen.

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