Der Mann, der Jack Carter erfand: Ted Lewis, Meister des Brit Noir

Seite 3: Penthouse war tot

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Ich kann halbwegs nachvollziehen, warum Jack Carters Penthouse aus der Übersetzung von 1971 verschwunden ist (2002, in der bisher letzten und "überarbeiteten" Ausgabe, mit schönen Texten von Hans Gerhold und Martin Compart im Anhang, hätte man es aber schon ändern können). In Deutschland erschien das vom Amerikaner Bob Guccione gegründete "Magazin in dem alles steht" erstmals 1980. Vermutlich hätten die meisten deutschen Leser vorher nicht gewusst, worum es sich da handelt. Vielleicht spielte auch die Zensur eine Rolle. Verleger von harten Krimis mussten mit dem Eingreifen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften rechnen, wenn ein Lehrer ein Exemplar auf dem Schulhof konfiszierte. So oder so: Eine x-beliebige Illustrierte liest Carter definitiv nicht. Die Penthouse-Ausgabe im Zugabteil hat eine doppelte Funktion. 1965 brachte Guccione sein Magazin zuerst im Vereinigten Königreich heraus (in den USA ab 1969). Weil der Herausgeber ein geborener New Yorker war, wurde das als Beispiel für den schädlichen Einfluss der amerikanischen Kultur auf die britische gegeißelt. Der Einfluss der US-Kultur auf die seines Heimatlandes ist auch ein wiederkehrendes Thema bei Ted Lewis, nur ohne den erhobenen Zeigefinger der Moralapostel.

Die nackten Frauen in solchen Heften und im Film waren in den Sixties ein großer Aufreger. Die einen zeigten sie, und die anderen berichteten darüber - mit vielen Illustrationen, damit der Leser wusste, wovon die Rede war. Wie sehr alles im Fluss war lässt sich an Norman J. Warrens Her Private Hell (1967) sehen, der als der erste Sexfilm Großbritanniens mit Spielhandlung gilt (bis dahin gab es in erster Linie "Dokumentationen" über das Leben in der Nudistenkolonie oder über Ausschweifungen in schlimmen Lasterhöhlen). Bachoo Sen, zugewandert aus Kalkutta, hatte Arthouse-Filme wie Alain Resnais’ Letztes Jahr in Marienbad in den britischen Verleih gebracht, als er mit dem Kinobesitzer Richard Schulman eine Produktionsfirma gründete, die Piccadilly Pictures, um den Briten eine künstlerisch angehauchte Exploitation-Version von Blow-Up zu schenken (mit Jazz, leicht avantgardistischer Montage und Verweisen auf Michael Powells Peeping Tom - Warren hatte zuvor den immer noch sehr ansehnlichen Kurzfilm Fragment gedreht).

Her Private Hell

Sechs Monate nach Antonionis enigmatischer Geschichte rund um einen Londoner Modephotographen in die Kinos gekommen (Premiere war am 4. Januar 1968), erzählt Her Private Hell von den Tribulationen des italienischen Models Marisa (Lucia Modugno), das nach London geflogen wird, wo sie angeblich für Modephotos posieren soll und bei einem Photographen untergebracht wird, der sie zu Nacktaufnahmen und anderen Dingen verführt. Sehr explizit war das nicht, weil die Zensoren die meiste Nacktheit entfernt hatten. Trotzdem erfüllte der Film ein Bedürfnis und blieb über ein Jahr lang auf dem Spielplan von Londoner Kinos. Viel mehr nackte Busen brachte David Cohen in seiner halbstündigen Exploitation-Doku The Anatomy of a Pin-Up (1971) unter.

The Anatomy of a Pin-Up

Bei Cohen darf man Guccione dabei zusehen, wie er junge Damen zum Posing vor der Penthouse-Kamera animiert (eine ist Françoise Pascal aus La rose de fer, Jean Rollins Ode an die Nekrophilie). Die jungen Damen berichten von ihren Karriereplänen und erläutern, dass sie sich ausziehen, weil Gucciones Photos so schön ästhetisch sind und gar nicht schmuddelig (eine Angestellte findet alles besser, als weiter in der Bank zu arbeiten); Barbara Cartland, die Königin des rosaroten Kitschromans, warnt vor der drohenden Unmoral; Gucciones Assistentin zufolge befreit Penthouse die Frau; Feministinnen demonstrieren gegen die Verdinglichung des weiblichen Körpers; und irgendwelche Passanten geben auch noch ihren Senf dazu. Ausgewogenheit ist alles, als Girlande um die nackten Busen und die Models, die mit Guccione in den Park gehen, um nackt herumzutollen.

Cohen kriegte offenbar genau die richtige Balance hin, um Gnade in den Augen der Zensur zu finden. Sein Werk war darauf konzipiert, im Vorprogramm eines großen Spielfilms zu laufen (und an den Einnahmen teilzuhaben). Das gelang. Britische Zuschauer wurden mit Anatomy of a Pin-Up auf Hitchcocks Frenzy eingestimmt. Die nackte Haut à la Penthouse war 1971 mainstream-kompatibel geworden. Die Koppelung von Anatomy und Frenzy erbrachte auch ein Resultat, von dem weder Cohen noch Hitchcock etwas ahnen konnten, als sie ihre Filme drehten. "Lovely, lovely", sagt bei Cohen ein Photograph, als er eine junge Frau dazu bringt, die Brust freizumachen. Und "Lovely, lovely" stöhnt Hitchcocks Frauenmörder, als er Brenda Blaney vergewaltigt und erdrosselt, die Chefin des Heiratsbüros.

Guccione positionierte sein Magazin als die rüdere, gewagtere, skandalösere Alternative zum Plastiksex mit Gediegenheit kombinierenden Playboy von Hugh Hefner. Autoren, die danach zu Ikonen des investigativen Journalismus wurden, deckten Missstände auf und die Models wurden so weit entblößt, wie es für eine frei verkäufliche Zeitschrift nur möglich war. Er habe das Schamhaar legalisiert, sagt Guccione in Anatomy of a Pin-Up. Tatsächlich war er es, der durchsetzte, dass sein Heft nicht aus der Auslage der Kioske verschwinden musste, obwohl er aufgehört hatte, die Schamhaare wegzuretuschieren. Im Zeitalter der Intimrasur gewinnt diese Pionierleistung eine ganz andere Wertigkeit. Nicht nur die Klamotten, die jemand trägt (oder eben nicht), auch viele gesellschaftliche Tabus hängen stark von der Mode ab.

The Anatomy of a Pin-Up

Interessanterweise lässt Lewis seinen Helden allein im Zugabteil sitzen. Das Arbeiten mit solchen Leerstellen (hier ganz wörtlich zu nehmen) kann er gut. Das Fehlen von Mitreisenden wirft die Frage auf, ob Carter sein Penthouse-Heft nur ausgepackt hat, weil er das Abteil für sich allein hat oder ob die nackten Busen und das Schamhaar auf den "ästhetischen" Photos (in Anatomy wird Guccione mit den alten Meistern der Malerei verglichen) inzwischen so weit normalisiert sind, dass das keine Rolle mehr spielt. Man fragt sich unwillkürlich, wie andere Fahrgäste auf Carter und sein Penthouse reagieren würden. Da kündigt sich schon der Chronist einer zunehmend sexualisierten Gesellschaft an, als der Lewis sich in diesem und in den folgenden Büchern erweisen wird. Bei ihm spiegelt sich die legale Softcore-Pornographie in den verbotenen Rammelfilmchen, die damals im Umlauf waren und der Hardcore-Porno in den Modephotos im Versandhauskatalog.

Frenzy

Und "Penthouse was dead" heißt natürlich auch: vierzig Minuten vor Doncaster hat Carter die Nacktphotos in seiner Reiselektüre so oft gesehen, dass sie nicht mehr für eine Erektion taugen. Penthouse ist tot, weil sich in Carter beim Anblick der posierenden Damen nichts mehr regt. Für einen wie ihn, der sich so stark über seine Potenz definiert, hat das weit über das rein Sexuelle hinausreichende Konsequenzen. Penthouse ist tot, Carters Penis ist tot und Carter ist es auch. Darum sitzt er reglos im Zugabteil ("not even fidgeting") und schaut seinen Nägeln beim Wachsen zu. "Die Illustrierte kannte ich schon auswendig" (deutsche Übersetzung) ist davon doch sehr weit entfernt.

Strictly Harrison Marks

Die Pornographie spielt im Werk von Ted Lewis eine große Rolle. Seine Romane nehmen den Leser auf eine Reise mit, in deren Verlauf er die vom Ruß geschwärzten Rückseiten der Häuser zu Gesicht bekommt und die dunklen Ecken in der Welt der Mode- und Photoindustrie sowie des Ideals von der sexuellen Befreiung, der die Swinging Sixties viel von ihrer Strahlkraft verdanken. Zu den gelegentlich von Polizisten und Staatsanwälten monierten, aber legalen Softporno-Bildern in Penthouse gibt es die Hardcore-Entsprechung in der kriminellen Unterwelt Jack Carters. Seine Arbeitgeber, die Brüder Fletcher, sind im Geschäft mit pornographischen Photos und Filmen eine große Nummer. Die Fletchers könnten die Lieferanten des Albums mit den halbnackten Frauen sein, das der Kunde in Michael Powells Peeping Tom unter dem Ladentisch erwirbt. Cyril Kinnear, der Pate von Scunthorpe, ist ein Geschäftspartner der Fletchers. Er versorgt London mit Nachschub an pornographischem Material. Einmal kommt Carter in Kinnears Spielcasino. "Das Mädchen, das Cyril ‚Joy’ gerufen hatte, brachte mir ein Glas", steht in der deutschen Version. "Sie war eine richtige Beatmaus." Beatmaus? Auf Anhieb weiß ich auch nicht, wie man die Stelle für deutsche Leser übersetzen sollte. So jedenfalls nicht, und bestimmt ohne Relativsatz.

Peeping Tom

Hier das Original: "The girl called Joy brought me my drink. She was strictly Harrison Marks." Das ist wieder typisch Ted Lewis, der es immer schafft, in ein oder zwei Hauptsätzen eine Fülle von Informationen unterzubringen (die Frage, ob Kinnear oder sonst einer das Mädchen "Joy" gerufen hat, ist dabei völlig unerheblich). Harrison Marks war ein Photograph, der dieselbe Art von "Glamourbildern" verkaufte wie sie Karlheinz Böhm in Peeping Tom macht, und 8mm-Pornofilme. Die Aktphotos gab es einzeln, als Buch, im Portfolio und ab 1957 auch in Kamera, dem ersten Magazin für dieses Marktsegment, das in Großbritannien in einer Massenauflage produziert wurde. Lewis durfte also wieder mit Lesern rechnen, die bei "Harrison Marks" sofort ein Bild von Joy und der durch sie repräsentierten Form der Erotik im Kopf hatten.

1970 war Marks schon etwas antiquiert (und Kamera seit zwei Jahren eingestellt). Wir befinden uns in der Provinz, wo man der Entwicklung ein wenig hinterherhinkt. Swinging London und die Carnaby Street, falls das mit "Beatmaus" gemeint sein sollte, ist Scunthorpe ganz sicher nicht. Penthouse ist in diesem Zusammenhang nicht tot, sondern das, was auf Kamera folgte. Und ein Exemplar von Gucciones Magazin ist das Mitbringsel des jetzt in London lebenden Carter für seine Heimatstadt, in der sich die Herren im hochklassigsten Etablissement am Ort die Drinks noch von Damen mit Marks-Appeal servieren lassen. "Strictly Harrison Marks" verrät uns auch etwas über den Titelhelden. Durch kommentierende Beobachtungen wie diese nimmt Carter ständig Wertungen vor. Dadurch eignet er sich gut als Sprachrohr des Autors, und als Kritiker der von ihm vorgefundenen Gesellschaft. Bis dahin war das eher die Domäne von Detektiven wie Raymond Chandlers Philip Marlowe, nicht von Gangstern. Wenn jetzt der Schurke das - auf eine verquere Weise moralische - Urteil fällt, sagt das an sich schon etwas über das Gemeinwesen aus, mit dem er konfrontiert ist.

Wie starb Lee Marvin?

Der schwierige Umgang mit der Sexualität ist ein Thema, dem Lewis sich regelmäßig widmet. Meistens ist sie ein Mittel zum Zweck: zum Erwerb von Geld und Macht, zum Erlangen emotionaler Vorteile, zur Befriedigung von Bedürfnissen, die man versteckt, weil sie abseits bürgerlicher Normen verortet und bestenfalls peinlich sind. Am uninteressantesten wird die Sexualität in Lewis’ Erstling abgehandelt. Auch in dieser Hinsicht viel besser ist The Rabbit. Victor Graves, der Kunststudent mit dem Ferienjob im väterlichen Steinbruch, erlebt da ein tragikomisches Abenteuer mit Janet, die irgendwie viel mehr Klasse zu haben scheint als seine Freunde aus Kindertagen, mit denen man sich zwar darüber unterhalten kann, wie toll Lee Marvin auf der Leinwand stirbt (in Budd Boettichers Seven Men From Now), aber nicht darüber, was besser ist: die Hommage des Modern Jazz Quartet an Django Reinhardt, oder doch "Milano" (die B-Seite der "Django"-Platte). Victor ist innerlich zerrissen, steht in dieser Phase seines Lebens zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen dem Elternhaus und den vertrauten Mustern seiner Kindheit auf der einen und der Welt der Kunstschule auf der anderen Seite. Einmal ist er frustriert darüber, dass er von der einst vertrauten, ihm fremd werdenden Umgebung nicht verstanden wird, dann hat er Schuldgefühle denen gegenüber, die er bald hinter sich lassen wird. Wie oft bei Lewis wird das mit Hilfe von Räumen ausgedrückt. In The Rabbit ist es zum Beispiel das Zimmer von Veronica, mit der Victor geht und die am Schluss des Buches nicht mehr seine Freundin sein wird. Nach einem Jahr auf der Kunstschule, sagt Victor (wie alle Lewis-Helden ist er ein Ich-Erzähler), sieht Veronicas Zimmer plötzlich "klein und gewöhnlich aus, wie einige der Erinnerungen aus den vergangenen paar Jahren".

Seven Men From Now

Die Vergangenheit ist schal geworden, die Gegenwart ein Schwebezustand zwischen hier und dort, die Zukunft kaum mehr als ein vages Versprechen. Halt bietet ein Referenzsystem aus kulturellen Fixpunkten, auf die ein Autor wie Lewis in den 1970ern noch in der berechtigten Hoffnung anspielen konnte, dass die Leser sie verstehen würden. Heute, im Zeitalter der Partikularinteressen, wäre das ungleich schwieriger. Auch bei Lewis ist es schon trügerisch. Mit keinem aus der Clique in seinem Heimatort kann Victor über Cool Jazz reden. Das geht nur mit Janet. Aber "Django" und "Milano" sind zwar die Titel auf einer Platte des MJQ, zugleich verweisen sie jedoch auf Sergio Corbuccis Spaghetti-Western mit Franco Nero und auf Milano calibro 9, einen Gangsterfilm von Fernando Di Leo. Und solche italienischen Genrefilme mit ihren stilisierten Gewaltszenen gehören in seine alte Welt, wo man noch nachspielt, wie Randolph Scott Lee Marvin erschießt.

Bei den meisten von Lewis’ Büchern hat man das Gefühl, dass sie viel länger sein müssten als ihre üblicherweise etwas mehr als 200 Seiten, wenn man durch ist. Das kommt nicht daher, dass sie langweilig wären und man den Schluss herbeisehnt. Vielmehr bieten sie ein sehr dichtes Leseerlebnis, was damit zu tun hat, dass Lewis geschickt Assoziationen freisetzt und damit lange Erläuterungen einspart. Davor muss man keine Angst haben. Lewis bezieht sich überwiegend auf die Populärkultur. Es ist nicht so wie bei gewissen Autoren der Postmoderne, die mit Spezialwissen protzen und dem Leser seine Unwissenheit vor Augen führen. Wenn man die Anspielungen in Jack’s Return Home nicht erkennt, bleibt das Buch immer noch ein guter Krimi. Erkennt man sie, erschließen sich einem neue Bedeutungsebenen. Man hat dann einen Bonus.

Victor, der Held des autobiographischen The Rabbit, muss von Barton-upon-Humber mit der Fähre nach Hull übersetzen, wo er sein Rendezvous mit Janet hat. Janet, die Frau seiner Träume, holt ihn am Pier ab, von da gehen sie ins Kino. Auf dem Programm steht Fred Zinnemanns From Here to Eternity. Selbst wer den Film noch nie gesehen hat dürfte hier gleich die in Form unzähliger Photos verbreitete Strandszene vor Augen haben: Deborah Kerr und Burt Lancaster eng umschlungen, stürmisch liebkost von der Gischt der Brandung. Mehr visueller Orgasmus geht fast nicht. Victor darf seine Angebetete denn auch küssen. Der Traum zerplatzt vorerst, als er auf die präpotenten Schläger aufmerksam wird, mit denen er in Barton im Streit liegt und die mit im Kino sitzen. Dieser Konflikt wird später, zurück in Barton, in eine Prügelei münden, die ziemlich prosaisch ist und nicht so ästhetisch und stilisiert wie in italienischen Genrefilmen der 1960er und 1970er. Auch Lee Marvin, der Schurke mit den Manierismen eines Dandys, hätte das viel eleganter gelöst.

From Here to Eternity

Überhaupt Lee Marvin, dessen Walker in Point Blank (1967) ein naher Verwandter von Jack Carter ist (und eine wandelnde Leiche so wie er): Was hätte Marvin alias Bill Masters alias Liberty Valance wohl über das Barton-upon-Humber im Werk von Ted Lewis gesagt? Und hatten die Honoratioren des Ortes alle Bücher des Autors gelesen, als sie die Gedenkplakette am Haus seiner Eltern genehmigten? Im Barton von The Rabbit amüsiert man sich, indem man saufen geht oder dem letzten Erotik-Aufgebot, einer knapp vierzigjährigen, mehr mütterlich als lasziv wirkenden Stripperin mit dem Künstlernamen Miss Jackie Du Val dabei zusieht, wie sie sich aus einem scharlachroten Abendkleid und nicht dazu passenden Handschuhen schält. In einem Lewis-Roman kann dieser Striptease nur misslungen sein, weil die Künstlerin kein Stilbewusstsein hat. Bleibt als Zuflucht noch die fiktionale Welt auf der Leinwand.

Open-End-Party

Einmal steht Victor vor dem Kino, wo Seven Men from Now läuft und versenkt sich in die Aushangbilder. Dann sieht er die Reflektion seines Vaters im Glas des Schaukastens. Was für ein schöner Abend, meint der Vater. Wäre es nicht besser, ganz schnell heim zu gehen und Hausaufgaben zu machen (Zeichnungen für die Kunsthochschule). So ist das immer bei Ted Lewis. Das Verhältnis zwischen den Generationen ist bestenfalls gespannt - nicht nur, wenn aus dem Sohn ein Gangster geworden ist, da aber ganz besonders. Jack Carter hat vor der Übersiedelung nach London seinen Vater verprügelt, um dann nur zweimal nach Scunthorpe (ein paar Meilen von Barton entfernt) zurückzukommen: zur Beerdigung des Seniors und zu der seines Bruders Frank. In Franks Tod verwickelt ist Cliff Brumby, der mit Spielautomaten ein Vermögen verdient hat und ein Doppelleben führt. Als ehrbarer Bürger bewohnt Brumby ein Haus im Ranch-Stil in einem Vorort für Reiche.

Als Carter dort eintrifft, ist das Ehepaar Brumby noch auf dem Polizeiball. Die Tochter hat die Gelegenheit genützt und Freunde zu einer Party eingeladen. Sie sieht glücklich aus, bis ihr Vater früher als geplant nach Hause kommt, den wilden Mann markiert und die jungen Leute aus der Imitationsranch wirft. Brumby ist so in Fahrt, dass er sich gleich noch mit Carter anlegt. Das ist ein Fehler. Carter verpasst ihm mit der Coolness des Professionellen ein paar gezielte Schläge, dann ist Ruhe. Mike Hodges stellte später erstaunt und etwas ratlos fest, dass die Leute Carter im Kino zujubelten, obwohl er doch ein Monster ist. Natürlich ist er das. Aber er ist auch der Mann, mit dem man sich in einer durch und durch korrupten Gesellschaft wenigstens ab und an identifizieren kann, weil er den Heuchlern und Biedermännern die längst fällige Abreibung verpasst (der Mann mit dem schnellsten Colt im Italo-Western ist da nicht weit).

Get Carter

Den besten Spruch aus der Brumby-Szene (im Film besser als im Buch) kann man heute als Aufschrift auf einem T-Shirt kaufen: "You’re a big man. But you’re in bad shape. With me, it’s a full-time job. Now behave yourself." Du bist groß und mächtig, aber jetzt benimm dich, weil sonst gibt’s was auf die Mütze. Wer wäre nicht auch schon der einen oder anderen, ihm von einer als ungenügend empfundenen Gesellschaft als "Respektsperson" vorgesetzten Figur begegnet, vom blöden Lehrer bis zum cholerischen Chef, dem er das gern gesagt hätte, um dann mit Carter’scher Nonchalance zur Tat zu schreiten? Kein Wunder, wenn da im Saal geklatscht wird. Das war schon immer die große Stärke des Kinos: ein Gemeinschaftsgefühl herzustellen. Das bedeutet nicht, dass danach alle Amok laufen würden. Von Unruhen nach der Lektüre des Romans oder dem Besuch einer Kinovorführung ist nichts bekannt.

In The Rabbit findet die Party im Haus von Janets Eltern statt, die tatsächlich wegbleiben wie versprochen, statt vorzeitig von einer Reise zurückzukehren. Man darf nicht vergessen, dass das - schätze ich - in den späten 1950ern spielt, und in der Provinz, als vieles von dem, was uns heute selbstverständlich erscheint, erst noch erkämpft werden musste. Die Abwesenheit der Eltern, gepaart mit einem Open End, wird von allen wie das Abwerfen einer drückenden Last empfunden:

Jeder schien sich sehr schnell einen anzutrinken, und auf eine sehr glückliche Weise, und alle lagen entweder auf dem Boden oder quer über die Sitzmöbel, lachten und machten dumme Witze als würden sie irgendeinen großen Sieg feiern oder irgendeine Befreiung. Tatsächlich war es mir auch in den Sinn gekommen, dass es für alle Anwesenden das erste Mal war, dass sie auf einer Party waren, die nicht damit enden würde, dass die Eltern, denen das Haus gehört, heimkommen, und wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass alle so beschwingt und freudig erregt waren. Ich konnte mir gut vorstellen, dass keiner seinen eigenen Eltern gesagt hatte, wie es wirklich war, weshalb die Situation auch etwas Heimliches hatte, was die Hochstimmung durch etwas auf eine befriedigende Weise Verbotenes versüßte.

Wer demnächst wieder über die 68er herziehen möchte: Bei Lewis nachlesen, was das zuvor für eine dumpfe, erstickende Welt war, in der man aufwuchs (und das eventuell mit dem heutigen Komasaufen vergleichen, um Rückschlüsse auf die Gesellschaft zu ziehen, die solche Ventile nötig macht).

Bei der Party beginnen die ersten Paare, sich in andere Räume zurückzuziehen. Victors sexuelle Erfahrungen beschränken sich bisher darauf, dass er ab und zu die Hand in die Unterhose von Veronica stecken durfte, die davon nicht sonderlich erregt war. Janet, die Frau mit dem Faible für das Modern Jazz Quartet und Filme wie From Here to Eternity, spricht ihm von Seelenverwandtschaft und romantischer Liebe. Dann darf er mit in ihr Zimmer gehen. Auf drei Seiten wird sein Erlebnis mit der wahren, echten, tief empfundenen Leidenschaft zelebriert. Ich kenne wenige Bücher, in denen das so gut nachvollziehbar beschrieben wird wie hier. Victor vergeht fast, als er - nach der Überwindung von Hindernissen wie einem unverrückbaren Hüftknochen und zu kurzen Armen - Janets purpurfarbene Unterwäsche und ihr Schamhaar zu Gesicht kriegt. Das Herz schlägt ihm inzwischen bis zum Hals, und darum bemerkt er nicht, dass Janet viel mehr Erfahrung hat als er (und offenbar regelmäßig mit einem anderen schläft).

Janet wünscht sich, dass Victor - wegen der Seelenverwandtschaft und weil sie etwas ganz Besonderes verbindet, nicht wegen dem schnöden Sex - in sie eindringen möge. Darüber gerät er nun vollends in Panik und muss passen. Zu Schaumkronen auf den Wellen der Leidenschaft kommt es dann doch noch, nur eben ohne Penetration. Victor tröstet sich und Janet mit dem Gedanken, dass das erst der Beginn einer wunderbaren Liebe und der Verschmelzung zweier Seelen ist. Das böse Erwachen folgt auf dem Fuß. Victor kann sein Glück noch gar nicht richtig fassen, da klingelt es an der Tür. Der späte Gast heißt Steve, ist ein paar Jahre älter und gestylt wie James Dean. In London wäre das schon überholt, in Hull ist es vermutlich der letzte Schrei. Steve ist der Freund von Janet, die er immer schlecht behandelt, was Janets Liebe keinen Abbruch tut, sie vielleicht sogar noch steigert. Nach einem Streit hat sich das Paar getrennt. Victor wurde nur zur Party und in Janets Bett gebeten, um Steve eifersüchtig zu machen und so die Versöhnung einzuleiten.

Zurück in Barton, findet Victor ein wenig Trost darin, seinen auf die Wichsvorlagen in den einschlägigen Magazinen angewiesenen Freunden eine stark geschönte Version der langen Partynacht zu präsentieren, was diese äußerst neidisch macht. Einige Tage später erhält er einen Brief von Janet. Sie würde ihn gern um Verzeihung bitten, schreibt sie, wisse aber, dass er ihr nicht verzeihen könne, es tue ihr furchtbar leid und so weiter und so fort. So ist das oft bei den Charakteren von Ted Lewis. Sie machen etwas (häufig verbunden mit einer Spielart der Sexualität), wissen von vornherein, dass es nicht richtig ist, tun es trotzdem und ergehen sich dann in Entschuldigungen, um das eigene Gewissen zu beruhigen, was meistens nicht gelingt. Der angestaute Frust entlädt sich in einer direkten oder einer sublimierten Form von Gewalt. In The Rabbit gibt es eine lange hinausgezögerte Prügelei und die Tötung des titelgebenden Hasen. Am Schluss bleibt man mit der Frage zurück, wie viel von einem Hasen Victor Graves hat, das Alter Ego seines Autors.

Kauf dir deinen Traum

Etwas schiefgegangen ist auch im Leben von Peter Knott. Das ist der Mann mit der toten Frau im Kofferraum, der einleitend erwähnt wurde. Knott (ein älter gewordener Victor Graves?) ist der Absolvent einer Kunsthochschule, wo er sich auf Photographie spezialisiert hatte. Jetzt hat er alles, was man sich nur wünschen kann, wenn man in einer bürgerlichen, finanziell gut abgesicherten Existenz die Glückserfüllung sieht: Eine Frau, Kate, die ihn liebt. Zwei Kinder. Ein schönes neues Haus in einer Wohngegend für Besserverdiener. Ein teures Auto. Die Mitgliedschaft im Segelclub. Sein Schwiegervater betreibt einen Versandhandel, der ihn schwerreich gemacht hat. Knott schießt die Photos für den Katalog, auch solche für Unterwäsche. Das wird ihm zum Verhängnis. Im Studio lebt er seine sexuellen Phantasien aus, oder zumindest versucht er es. Am erregendsten ist die Planung, weil er sich da genau ausmalen kann, wie es sein wird. Die Wirklichkeit hinkt der Phantasie hinterher. Also versucht er es stets aufs Neue.

Eileen ist siebzehn, unschuldig, arbeitet im Empfang einer Werbeagentur. Knott macht ihr weis, dass sie "Model-Material" ist, er gern Probeaufnahmen von ihr machen würde, mit Mode für die junge Dame. Erst geht es auf einen Drink in Peggy’s Bar, von da zum Studio im Obergeschoss eines alten Fabrikgebäudes, über eine steile Treppe zu erreichen. Eileen wechselt mehrfach das Kostüm, um schließlich zu erfahren, dass der nette Peter in einer Zwangslage steckt. Das Unterwäschemodel hat abgesagt, und er muss dringend die Bilder machen. Nur Körper, von der Hüfte abwärts, kein Gesicht. Eileen will ihm behilflich sein. So kommt eins zum anderen. Das ist das Szenario, das Knott mit wechselnder Besetzung der Frauenrolle immer wieder durchspielt. Später, nach der Katastrophe, wird ihn seine Gattin mit Strapsen überraschen, weil sie glaubt, dass er sich das von ihr wünscht. Die sexuelle Vereinigung befördern die Strapse nicht. Peter mag Bondage, und Bilder von Leuten in Unterwerfungspose. Ganz besonders mag er Photos, auf denen er selbst die Unterwäsche trägt, gern auch mit Höschen um die Knie.

Auf eine verquere Weise ist das seine Art von Subversion. Mit Kate hat er Geld und den sozialen Aufstieg geheiratet. Nicht nur Magazine wie Penthouse oder Kamera, auch die Unterwäschephotos im Katalog seines Schwiegervaters haben eine masturbatorische Komponente. Diese legale, gesellschaftlich akzeptierte und massenhaft verbreitete Spielart der - sagen wir - erotischen Photographie unterläuft er, indem er die in solchen Bildern steckenden Phantasien anzapft und Verbotenes, von der Gesellschaft nicht mehr Toleriertes tut. Für Knotts statusbewusste Mutter ist die Ehe ihres Sohnes mit Kate die perfekte Familienplanung. Für ihn selbst, den früheren Kunststudenten, ist sie eine bürgerliche Form der Prostitution, weil er statt einer geliebten Frau das Geld des reichen Schwiegervaters geheiratet hat und jetzt Gebrauchsbilder für dessen Versandhauskatalog macht. Darum ekelt er sich vor sich selbst. Seine Antwort: Photos mit pornographischen Posen, aufgenommen im mit dem Geld seines Schwiegervaters finanzierten Studio, mit der von seinem Schwiegervater vertriebenen Unterwäsche und mit jungen Frauen aus der Vorstadt wie Eileen, den potentiellen Kundinnen des Schwiegervaters. Das hilft ihm dabei, sein nach außen hin privilegiertes Leben als sich prostituierender Schwiegersohn zu ertragen. Und es verschafft ihm den ganz besonderen Kick, weil er - zumindest in Gedanken - "das fade Unterbewusstsein des großen Katalogmarkts aufwühlt", wie er es nennt, "das Publikum, das ich mit den Verbrämungen meiner eigenen Hochglanzphotographien erreichte".

Ziemlich viel Brimborium, könnte man nun einwenden, um zu beschönigen, dass einer Minderjährige in sein Studio lockt, um sie sexuell zu missbrauchen. Lewis würde vermutlich nicht widersprechen. Das ändert nichts daran, dass das eine wichtige Motivation für das Handeln von Peter Knott ist: Ekel vor sich selbst und vor einer Gesellschaft, in deren Villenviertel er eingeheiratet hat, ausagiert durch Sexspiele, welche die Mehrheit als eklig empfinden würde, gespiegelt in der Warenwelt des Versandhauskatalogs. Anordnungen wie diese machen die Bücher von Ted Lewis so abgründig. Keine Angst, sagt Knott zu Eileen, als er sie in die Falle lockt. Auf den Photos für den Katalog sieht man nur die angepriesenen Unterhosen und deine Beine, kein Gesicht. Frauen auf ihre Körperteile zu reduzieren, das ist eine mögliche Definition von Pornographie. Gern würde ich einen Lewis-Krimi mit einem Protagonisten lesen, der für eine TV-Sendung wie Germany’s Next Topmodel arbeitet. Das könnte interessant werden.

Die Rolle der Medien beim Verarbeiten und Kommerzialisieren unserer Wünsche und Träume, beim Umformatieren in leicht konsumierbare Häppchen - Ted Lewis ist dem immer wieder nachgegangen, hat die Schattenseiten medial ausgelebter und verkaufter Phantasien erforscht, sich den Schnittstellen zwischen Fiktion und Wirklichkeit genähert und nie angehalten, wenn es unangenehm wurde. In Anatomy of a Pin-Up sagt Bob Guccione, der Penthouse-Gründer, die Photoserie in seinem Magazin sei der logische, fast unerlässliche erste Schritt in einer Karriere als Model oder Schauspielerin. Was aber, wenn nicht? Was, wenn es bei der ausklappbaren Wichsvorlage bleibt oder zu der Sorte von bewegten oder starren Bildern führt, die man eher nicht mit Audrey Hepburn assoziiert? Was für Leuten begegnet man, wenn die Reise - wie in Jack’s Return Home - da endet, wo bei Onkel Walt, im Disney-Reich, die schöne Leinwandwelt beginnt und man doch nur eine Version der Hölle findet?

2. Teil: 2+1=1: Die Welt als Filmrolle

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