Der Mythos einer starken Nachkriegs-Ukraine

Seite 2: Düstere Perspektiven

Wie "pro-westlich" könnte diese zukünftige Ukraine sein? Es ist natürlich unmöglich, das zum jetzigen Zeitpunkt mit Sicherheit zu sagen, vor allem, weil die Vorhersage von Stimmungsschwankungen in der Bevölkerung naturgemäß noch schwieriger ist als die Prognose von Bevölkerungszahlen.

Aber auch hier gibt es Grund zur Sorge. Während die mit Spannung erwartete Gegenoffensive der Ukraine ins Stocken gerät, werden von ukrainischer Seite zunehmend Vorwürfe laut, Washington habe auf Angriffe gedrängt, aber nicht genügend Munition und Luftabwehr geliefert, sodass die Ukraine zum Scheitern verurteilt sei.

Wenn diese Gegenoffensive völlig zusammenbricht und die Nato nicht zur Hilfe kommt, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, dass sich in der Ukraine eine "Dolchstoß"-Debatte entwickelt, bei der sich der Hass auf Russland mit Ressentiments gegenüber dem Westen vermischt.

Kriege sind in der Regel eine Belastung für die demokratische Freiheit. Dies hat sich sogar in den Vereinigten Staaten bewahrheitet, unter anderem während des Bürgerkriegs, des Ersten und Zweiten Weltkriegs, in Vietnam und im globalen Krieg gegen den Terrorismus.

Die Ukraine bildet hier keine Ausnahme. Kiew hat Oppositionsparteien verboten, Oppositionsführer verhaftet, Oppositionszeitungen und -sender geschlossen, die Religionsfreiheit stark eingeschränkt und angedeutet, dass die für 2024 geplanten Präsidentschaftswahlen nicht stattfinden werden, solange der Krieg andauert.

In vielerlei Hinsicht sind das verständliche Reaktionen auf die existenzielle Bedrohung, die von Russland ausgeht. Sie geben jedoch wenig Anlass zur Hoffnung, dass es der Ukraine gelingen wird, sich schnell aus den Missständen zu befreien, die durch die korrupte Klientelpolitik vor dem Krieg lange Zeit entstanden waren.

Nichts von alledem ist unvermeidlich. Aber der Schlüssel zur Vermeidung dieser düsteren Vision der ukrainischen Zukunft liegt darin, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, um den wirtschaftlichen Wiederaufbau zu erleichtern, die Rückkehr von Flüchtlingen anzuziehen und der Ukraine zu ermöglichen, liberale Reformen unter günstigen Bedingungen voranzutreiben. Leider macht es die US-amerikanische Politik beim gegenwärtigen Stand der Dinge immer unwahrscheinlicher, dass die Ukraine wiederaufgebaut werden kann und wird.

Indem die Biden-Regierung öffentlich erklärte, die Ukraine werde zwar Mitglied der Nato werden, aber erst nach Beendigung des Krieges, hat sie Russland auf perverse Weise einen Anreiz gegeben, dafür zu sorgen, dass der Krieg nicht beendet wird, zumindest nicht offiziell. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Kreml den Krieg nicht in der derzeitigen Intensität führen.

Allein die Drohung, dass eine Welle russischer Raketeneinschläge ein neues Wohnbauprojekt oder eine kürzlich wieder aufgebaute Brücke zerstören könnte, wird Investoren davon abhalten, die Hunderte von Milliarden Dollar bereitzustellen, die die Ukraine für den Wiederaufbau benötigt. Russland mag nicht in der Lage sein, die Ukraine ganz zu erobern, aber es kann der Ukraine den Weg in eine lebenswerte Zukunft versperren.

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Ukraine aus dem Krieg als starke und blühende Demokratie hervorgehen wird, egal, wie er endet oder wie lange er dauert. Je länger er andauert, desto düsterer wird die Zukunft der Ukraine sein.

Es ist an der Zeit, unsere defensive Unterstützung für die Ukraine – die unerlässlich ist, um weitere russische Gebietsgewinne zu verhindern und den Kreml zu Verhandlungen zu drängen – mit einer diplomatischen Offensive zu verbinden, die auf eine Kompromisslösung abzielt. Je eher wir das tun, desto besser wird es der Ukraine gehen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

George Beebe ist Direktor für Grand Strategy beim Quincy Institute. Er verbrachte mehr als zwei Jahrzehnte in der US-Regierung als Geheimdienstanalyst, Diplomat und politischer Berater, unter anderem als Direktor der Russland-Analyse der CIA, als Direktor des Open Source Center der CIA und als Berater von Vizepräsident Cheney in Russlandfragen. Sein Buch "The Russia Trap: How Our Shadow War with Russia Could Spiral into Nuclear Catastrophe" warnt davor, wie die Vereinigten Staaten und Russland in eine gefährliche militärische Konfrontation stolpern könnten. Beebe war zudem Vizepräsident und Studiendirektor am Center for the National Interest.