Der Mythos einer starken Nachkriegs-Ukraine
In Washington glaubt man, dass im Zuge des Ukraine-Kriegs eine blühende Demokratie entstehen wird. Doch das ist Wunschdenken. Warum der Krieg so schnell wie möglich beendet werden sollte.
Ganz gleich, wie der Krieg ausgeht, Wladimir Putins Einmarsch in die Ukraine hat genau das Ergebnis hervorgebracht, das er am meisten verhindern wollte: eine blühende antirussische, prowestliche Demokratie, die bis an die Zähne mit amerikanischen Waffen bewaffnet und dazu bestimmt ist, zumindest ein de facto Verbündeter Washingtons zu werden, wenn nicht sogar ein offizielles Mitglied des Nato-Bündnisses.
So denkt man jedenfalls in Washington und anderen westlichen Hauptstädten. Doch mit der einzigen Ausnahme der sich vertiefenden und durchaus verständlichen Abneigung der Ukraine gegenüber Russland ist das eher Wunschdenken als Realität.
Beginnen wir mit dem "blühenden" Teil, denn er ist die Grundlage, auf der die anderen Elemente dieser Erzählung ruhen. Laut der letzten sowjetischen Volkszählung hatte die Ukraine vor ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1992 eine Bevölkerung von fast 52 Millionen Menschen.
In den folgenden drei Jahrzehnten ging die Bevölkerungszahl erheblich zurück, da die wirtschaftlichen und psychologischen Verwerfungen nach der Auflösung der UdSSR in den turbulenten 1990er-Jahren zu einer Verkürzung der Lebenserwartung führten und die Geburtenrate in der Ukraine fast auf den niedrigsten Stand in ganz Europa sank.
Rechnet man die Annexion der Halbinsel Krim mit ihren 2,5 Millionen Einwohnern durch Russland vor fast einem Jahrzehnt hinzu, so schrumpfte die Bevölkerung der Ukraine bis 2022 auf weniger als 40 Millionen.
Seit dem Einmarsch Russlands im vergangenen Jahr haben sich die demografischen Aussichten der Ukraine sogar noch dramatischer verschlechtert. Zahlreiche ukrainische Bürger – meist Frauen und Kinder – sind vor dem Krieg in die Europäische Union und nach Russland geflohen.
Seriöse Demographen schätzen die derzeitige Bevölkerungszahl des Landes auf weit unter 30 Millionen. Je länger der Krieg andauert, desto mehr Verluste wird die Ukraine erleiden, und desto größer wird die Zerstörung ihrer Städte, ihrer Infrastruktur und ihrer Anbauflächen sein.
Diese zunehmenden Schäden werden wahrscheinlich viele Flüchtlinge davon abhalten, in absehbarer Zeit in die Ukraine zurückzukehren. Aus einer im vergangenen Jahr veröffentlichten europäischen Bevölkerungsstudie geht hervor, dass die ukrainische Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bis zum Jahr 2040 um ein Drittel ihres derzeitigen Umfangs zurückgehen könnte, wobei die Zahl der Kinder auf die Hälfte des Vorkriegsniveaus sinken würde.
Demografie ist nicht unbedingt Schicksal, aber solche schockierenden Prognosen verheißen nichts Gutes für den wirtschaftlichen Wohlstand und die gesellschaftliche Dynamik der Ukraine. Die Zukunft, die sie vorhersagen, ist ein Teufelskreis des Niedergangs.
Unter diesen Umständen wäre es für die Ukraine schon eine Herausforderung, ein umfangreiches stehendes Heer zu unterhalten, um dem viel bevölkerungsreicheren Russland Paroli bieten zu können, ganz zu schweigen von der Beherrschung und Wartung eines großen Waffenarsenals nach Nato-Standard.
Je mehr Ressourcen das Land für sein Militär aufwenden muss, desto weniger hat es für die Gründung neuer Handelsunternehmen und den Aufbau einer produktiven Zivilwirtschaft zur Verfügung. Der Agrarsektor der Ukraine – eine der Grundlagen ihrer Wirtschaft – ist bereits dramatisch geschrumpft.
Je länger der Krieg andauert, desto mehr Ackerland wird durch Landminen und andere Schäden verloren gehen, deren Behebung Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird. Je kleiner die Wirtschaft des Landes ist, desto schmaler wird die Steuerbasis.
In dem Maße, wie die Steuereinnahmen sinken, wird die Ukraine immer weniger in der Lage sein, den Bedarf ihrer alternden und durch den Krieg verkrüppelten Bevölkerung an sozialen Diensten zu decken, und noch abhängiger von der finanziellen Unterstützung durch die USA und Europa werden.
Düstere Perspektiven
Wie "pro-westlich" könnte diese zukünftige Ukraine sein? Es ist natürlich unmöglich, das zum jetzigen Zeitpunkt mit Sicherheit zu sagen, vor allem, weil die Vorhersage von Stimmungsschwankungen in der Bevölkerung naturgemäß noch schwieriger ist als die Prognose von Bevölkerungszahlen.
Aber auch hier gibt es Grund zur Sorge. Während die mit Spannung erwartete Gegenoffensive der Ukraine ins Stocken gerät, werden von ukrainischer Seite zunehmend Vorwürfe laut, Washington habe auf Angriffe gedrängt, aber nicht genügend Munition und Luftabwehr geliefert, sodass die Ukraine zum Scheitern verurteilt sei.
Wenn diese Gegenoffensive völlig zusammenbricht und die Nato nicht zur Hilfe kommt, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, dass sich in der Ukraine eine "Dolchstoß"-Debatte entwickelt, bei der sich der Hass auf Russland mit Ressentiments gegenüber dem Westen vermischt.
Kriege sind in der Regel eine Belastung für die demokratische Freiheit. Dies hat sich sogar in den Vereinigten Staaten bewahrheitet, unter anderem während des Bürgerkriegs, des Ersten und Zweiten Weltkriegs, in Vietnam und im globalen Krieg gegen den Terrorismus.
Die Ukraine bildet hier keine Ausnahme. Kiew hat Oppositionsparteien verboten, Oppositionsführer verhaftet, Oppositionszeitungen und -sender geschlossen, die Religionsfreiheit stark eingeschränkt und angedeutet, dass die für 2024 geplanten Präsidentschaftswahlen nicht stattfinden werden, solange der Krieg andauert.
In vielerlei Hinsicht sind das verständliche Reaktionen auf die existenzielle Bedrohung, die von Russland ausgeht. Sie geben jedoch wenig Anlass zur Hoffnung, dass es der Ukraine gelingen wird, sich schnell aus den Missständen zu befreien, die durch die korrupte Klientelpolitik vor dem Krieg lange Zeit entstanden waren.
Nichts von alledem ist unvermeidlich. Aber der Schlüssel zur Vermeidung dieser düsteren Vision der ukrainischen Zukunft liegt darin, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, um den wirtschaftlichen Wiederaufbau zu erleichtern, die Rückkehr von Flüchtlingen anzuziehen und der Ukraine zu ermöglichen, liberale Reformen unter günstigen Bedingungen voranzutreiben. Leider macht es die US-amerikanische Politik beim gegenwärtigen Stand der Dinge immer unwahrscheinlicher, dass die Ukraine wiederaufgebaut werden kann und wird.
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Enthemmte Russophobie führt uns auf einen gefährlichen Weg
Indem die Biden-Regierung öffentlich erklärte, die Ukraine werde zwar Mitglied der Nato werden, aber erst nach Beendigung des Krieges, hat sie Russland auf perverse Weise einen Anreiz gegeben, dafür zu sorgen, dass der Krieg nicht beendet wird, zumindest nicht offiziell. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Kreml den Krieg nicht in der derzeitigen Intensität führen.
Allein die Drohung, dass eine Welle russischer Raketeneinschläge ein neues Wohnbauprojekt oder eine kürzlich wieder aufgebaute Brücke zerstören könnte, wird Investoren davon abhalten, die Hunderte von Milliarden Dollar bereitzustellen, die die Ukraine für den Wiederaufbau benötigt. Russland mag nicht in der Lage sein, die Ukraine ganz zu erobern, aber es kann der Ukraine den Weg in eine lebenswerte Zukunft versperren.
Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Ukraine aus dem Krieg als starke und blühende Demokratie hervorgehen wird, egal, wie er endet oder wie lange er dauert. Je länger er andauert, desto düsterer wird die Zukunft der Ukraine sein.
Es ist an der Zeit, unsere defensive Unterstützung für die Ukraine – die unerlässlich ist, um weitere russische Gebietsgewinne zu verhindern und den Kreml zu Verhandlungen zu drängen – mit einer diplomatischen Offensive zu verbinden, die auf eine Kompromisslösung abzielt. Je eher wir das tun, desto besser wird es der Ukraine gehen.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
George Beebe ist Direktor für Grand Strategy beim Quincy Institute. Er verbrachte mehr als zwei Jahrzehnte in der US-Regierung als Geheimdienstanalyst, Diplomat und politischer Berater, unter anderem als Direktor der Russland-Analyse der CIA, als Direktor des Open Source Center der CIA und als Berater von Vizepräsident Cheney in Russlandfragen. Sein Buch "The Russia Trap: How Our Shadow War with Russia Could Spiral into Nuclear Catastrophe" warnt davor, wie die Vereinigten Staaten und Russland in eine gefährliche militärische Konfrontation stolpern könnten. Beebe war zudem Vizepräsident und Studiendirektor am Center for the National Interest.