"Der Nationalstaat ist eine Imagination der Selbstkontrolle"

Seite 2: Die Systemtheorie ist intellektuell attraktiv

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In unserer aktuellen Zeit massiver und umfassender Veränderungen - Stichwort Digitale Revolution - haben populärphilosophische und populärwissenschaftliche Bücher und entsprechende Artikel in den Feuilletons Hochkonjunktur. Als prominente Bestseller-Stellvertreter für Viele seien hier - ohne Wertung - Yuval Noah Harari und Richard David Precht angeführt. Die darin konstruierten Narrative scheinen ein menschliches Grundbedürfnis nach Sinnsuche wenn schon nicht zu befriedigen so doch zumindest zu stimulieren. Unbegreifliches ein wenig greifbarer zu machen, ist ihr implizit erklärter Anspruch. Sie sind jedoch gleichermaßen diagnostische Versuche wie Symptome der Veränderungen.

Gerade die Soziologie hat auch den Anspruch, beschreibend und diagnostisch unterwegs zu sein, ereignet sich aber selbst - wie jede Wissenschaft - in Medien, bevorzugt im Medium Text. Rekursive Komplexität und Selbstreferenz sind unaufhebbares Apriori. Ihre prognostische Kompetenz hat die Soziologie so dann und wann - bestätigt in der Rückschau - z.B. im Werk Manuel Castells' "Das Informationszeitalter" (Vol. 1, 1996, The Information Age) erweisen können.

Der Systemtheorie wird bisweilen von Kritikern unterstellt, einer Willkür unterworfen zu sein, die davon abhängt, was man gerade unter einem bestimmten System und seinen Grenzen verstanden wissen will und was nicht. Dennoch, eröffnet hier der systemtheoretische Ansatz weitergehende Möglichkeiten für die Soziologie, aus denen sich gegebenenfalls Impulse z.B. für praktische Politik und/oder Ökonomie ableiten lassen?

Dirk Baecker: Das weiß ich nicht. Der systemtheoretische Ansatz stellt sich die Aufgabe, die Gesellschaft so zu beschreiben, dass ihre Komplexität einigermaßen greifbar wird. Ob sich daraus praktische Impulse ableiten lassen, muss in den jeweiligen Anwenderkontexten selbst entschieden werden. Ich selbst bin nicht missionarisch unterwegs, so sehr ich mich freue, wenn meine Bücher und Texte Resonanz finden.

Dass die Systemtheorie einer gewissen Willkür unterworfen ist, ist eine Kritik, die ich verstehen kann, aber nicht teile. Tatsächlich sind die empirischen Anforderungen, die erfüllt sein müssen, um ein Phänomen als System zu beschreiben, ebenso genau definiert, wenn auch in verschiedenen Theoriefassungen verschieden definiert, wie anspruchsvoll. In dieser Situation kann es leicht dazu kommen, dass man sich die Arbeit an den Definitionen und die Auseinandersetzung mit der Empirie spart und mal eben ein Phänomen, das einen so oder so interessiert, als "System" ausruft, um dann das umfangreiche begriffliche Instrumentarium der Systemtheorie daran abarbeiten zu können.

Die Systemtheorie, wenn ich das so sagen darf, fasziniert als solche. Sie ist intellektuell attraktiv. Und dann arbeitet man eben mit ihr, weil man mit ihr arbeiten möchte, wie immer das zum Gegenstand des Interesses passt. Ich will auch überhaupt nicht ausschließen, dass ich selbst einer solchen Faszination auch immer mal wieder erliege. In der Regel versuche ich jedoch, mich streng an die Vorgabe zu halten, dass nur rekursive Zusammenhänge der Produktion eines wiedererkennbaren Typs von Operationen es verdienen, System genannt zu werden. Und in der Regel interessiert mich diese Art von Rekursion gerade deswegen, weil sie sich nicht-linear in der Auseinandersetzung mit einer mehr oder minder chaotischen Umwelt abspielt. Mich interessiert das System im Sinne von Adorno als eine mit sich nicht-identische Identität.

Am Ende Ihres Buches "4.0" findet sich eine interessante Matrix, in der Sie verschiedenen Themen ihre in den geschichtlichen Phasen 1.0 bis 4.0 wesentlichen Erscheinungsformen zuordnen. Z.B. für das Thema "Strukturform" sind dies Stamm (1.0 - Tribale Gesellschaft), Schicht (2.0 - Antike), Funktionssysteme (3.0 - Moderne Gesellschaft) und Netzwerk (4.0 - Nächste Gesellschaft). Zu den Funktionssystemen aus 3.0 gehört sicherlich das Konzept des Nationalstaats mit seiner schriftlich fixierten Verfassung und einem geographisch festgelegten Territorium als Gültigkeitsbereich. Finden hier die "aufeinanderprallenden alphabetischen und elektronischen Kulturfronten" McLuhans ihre Entsprechung in Nationalstaaten und global operierenden IT-Unternehmen? Letztere implementieren - allgemein gesprochen - Regeln als Algorithmen. Fast ausschließlich mit dem Ziel, das operative Betriebsergebnis für sich und die Kundschaft zu optimieren. In der Folge scheinen die ökonomischen Verteilungsfunktionen global völlig aus dem Ruder zu laufen.

Ein Kybernetiker würde möglicherweise anmerken, dass hier - in einem ganz prinzipiellen Sinn - Feedbacks fehlen. Und der Journalist Heribert Prantl von der Süddeutschen forderte in seiner Videokolumne die Zerlegung von Facebook und weiterer IT-Multis. Haben solche Forderungen einen Sinn? Und wenn ja, woran sollten sie sich orientieren?

Dirk Baecker: Werner Plumpe hat ja gerade unter dem Titel "Das kalte Herz" eine großartige Geschichte des Kapitalismus vorgelegt, in der unter anderem gezeigt wird, wie sehr die Kritik am Kapitalismus zu seinen konstitutiven Merkmalen gehört, die ihn zu den verschiedenen Formen entwickelt haben, die wir in Geschichte und Gegenwart weltweit erleben. Ich kenne die Rede von den fehlenden Feedbacks von Heinz von Foerster, der Unternehmen wie seinerzeit Amiga, das ihm seinen ersten PC geschenkt hat, auf Nachfrage empfahl, mehr Rückkopplungen mit ihrer gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt einzubauen, wenn sie ihr Überleben sichern wollen.

Ich bin mir nicht sicher, ob weltweit idiosynkratisch operierende Unternehmen, die wir ja seit den Fuggern kennen, irgendetwas Prinzipielles am Kapitalismus ändern. Sicher, der Nationalstaat gerät unter Druck. Aber geriet und gerät er nicht auch durch Grenzen überschreitende familiäre, religiöse, wissenschaftliche oder literarische Beziehungen unter Druck? Der Nationalstaat ist eine Imagination der Selbstkontrolle, aber um welches Selbst geht es dabei? Und wie kann man Unternehmen vorwerfen, für sich und ihre Kunden ihr Betriebsergebnis zu optimieren, solange Kunden dank der Produkte, die sie erhalten, an diesem Betriebsergebnis beteiligt sind? Warum soll man dem Kapitalismus vorwerfen, was man durch rechtliche Verbote viel besser regeln kann, wenn diese Produkte gegen das Gemeinwohl verstoßen? Und ja, natürlich, sobald Unternehmen ihren Markt monopolisieren und Kunden sowie Arbeitnehmer und Kreditgeber keine Wahl mehr haben, wird gegen das Gemeinwohl verstoßen und gilt es einen Staat auf den Plan zu rufen, von dem sich dann herausstellt, ob er national und international stark genug ist.

Die Schere zwischen technischem Innovationstempo einerseits und der für demokratische Entscheidungen benötigten Zeit andererseits läuft immer weiter auseinander. Kann die Soziologie einen Beitrag leisten, diese beiden gegenläufigen Trends quasi miteinander zu versöhnen oder sind wir dazu verdammt, den Technologie-Innovatoren - politisch - weiter hinterher zu laufen?

Dirk Baecker: Die Systemtheorie hat ein präzises Verständnis von den unterschiedlichen Tempi, mit denen nicht nur soziale Systeme, sondern auch organische, neuronale, mentale und künstliche Systeme arbeiten. Im Fall der Politik hat man es mit einem "langsamen" System zu tun, das für Anpassungen ganzer Bevölkerungen an technologisch und ökonomisch sehr viel schneller ablaufende Prozesse sorgen muss.

Wie gelingt ihr das? Indem sie mit ihren eigenen Entscheidungsprozessen dafür sorgt, dass technologische und ökonomische Prozesse auf sie warten. Das verschafft, wenn es gut geht, der Gesellschaft die Zeit, die sie für Anpassungen etwa auf dem Arbeitsmarkt oder in der Bildungspolitik braucht. Natürlich gibt es nirgendwo eine Garantie, dass das auch klappt. Die gesellschaftliche Vernunft, wenn man davon reden möchte, liegt allenfalls darin, dass die verschiedenen Systeme einander mit Unberechenbarkeit versorgen und auf diesem Weg zu verschärften Umweltbeobachtungen zwingen.

In der Systemtheorie laufen entsprechende Überlegungen unter dem Titel der Synchronisation von Komplexität. Nichts garantiert, dass sie gelingt, aber nichts kann sie ersetzen. Dass wir einander hinterherlaufen müssen, ist noch das Beste, was wir über diese Synchronisation von Komplexität sagen können.

Die gesellschaftlichen Debatten um Internet, Big Data, Robotik, Künstliche Intelligenz usw. sind aktuell nicht selten durch Polarisierung und Alarmismus geprägt, auf der einen Seite Technologie-Euphoriker, getrieben u.a. durch das Silicon Valley, auf der anderen Kulturpessimisten als die Bewahrer des Guten und Schönen. Kulturpessimismus soll hier nicht als Schimpfwort verstanden sein sondern als respektable Haltung. In einem Tonfall, der durchaus heutigen Digitalisierungskritikern vergleichbar ist, kritisierte schon Platon in seinem Phaidros-Dialog die damals recht neue Erfindung der Schrift als das Gedächtnis und die lebendige Erinnerung/Anamnesis schädigend sowie die Abwesenheit der physischen Präsenz der unmittelbaren Rede in der Schrift. Allerdings wissen wir das nur, weil Platon das aufgeschrieben hat. Ist dieser Widerspruch Platons - zwischen seinem Textinhalt und seinem schreibenden Handeln - auflösbar? Und kann seine Medienkritik in ihrer Methode für uns heute noch eine Bedeutung haben?

Dirk Baecker: Ich glaube, bei Eric Havelock in seinem Buch "Preface to Plato" (1963) findet sich die Überlegung, bei den Schriften Platons handele es sich letztlich nur um Broschüren, die die aristokratischen Jünglinge Athens und Griechenlands in die Akademie locken sollten, wo dann die wahre und geheime Lehre nur mündlich weitergegeben wurde. Alternativ kann man jedoch auch vermuten, dass die sokratischen Gespräche für einen Modus der Kommunikation zwischen Menschen werben sollten, der im "kalten" Ägypten, dessen Bürokratie bereits ganz auf die Schrift setzte, angeblich nicht mehr existierte. Nur die mündliche Rede erreicht das Herz und damit auch das Gedächtnis des Menschen. Ja, genau, das ist der medienkritische Topos, der seitdem gegen jedes neue Medium, den Buchdruck, das Kino, das Fernsehen, den Computer, das Internet, eingewandt wird. Michael Giesecke hat das im Fall des Buchdrucks gezeigt.

Ich kann mir eine Medientheorie, die nicht in diesem Sinne auch medienkritisch vorgeht, offen gestanden nicht vorstellen. Jede Medientheorie muss auf die Frage zielen, nicht was die Menschen mit den Medien machen, sondern was die Medien mit den Menschen machen. "Was mache ich aus mir, wenn ich ins Kino gehe, wenn ich fernsehe, wenn ich Illustrierte lese, wenn ich nur noch Aristoteles lese", ist die Standardfrage jeder Medientheorie als Medienkritik - Kritik im kantschen Sinne der Überprüfung von Bedingungen einer Möglichkeit. Wie will ich beobachten können, wie alte und neue Medien den Menschen und die Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes reformatieren, wenn ich keinen durchaus kritischen Vergleich zwischen den Medien anstelle? Und das ist ja ebenfalls seit Filippo Tommaso Marinetti und Walter Benjamin ebenfalls ein wichtiger Topos der Medientheorie: Neue Medien greifen in die Psyche der Menschen ein; sie verändern deren Orientierung an sich selbst und untereinander.

Das kann man sich vielleicht am besten klar machen, wenn man sich vor Augen führt, dass in den neuen Medien nicht nur neu gehandelt, etwa geschrieben statt gesprochen, werden kann, sondern dass dieses neue Handeln in neuen Medien in der Gesellschaft auch erlebt wird. Es ist im Zweifel nicht mein Handeln, sondern mein Erleben des Handelns anderer, das mir Sorgen macht.

Die komplexen Fragestellungen der Gegenwart passen nicht in das Fächerschema eines aus dem 19. Jahrhundert stammenden Bilds der Wissenschaft

Die Zeitschrift "Cicero - Magazin für politische Kultur" veröffentlichte kürzlich, wie jedes Jahr, eine Liste der 500 wichtigsten Intellektuellen deutscher Sprache. Über Sinn und Unsinn solcher "Bundesliga-Tabellen" für intellektuellen Einfluss lässt sich sicher trefflich streiten. Norbert Bolz würdigt in seiner Laudatio auf Peter Sloterdijk, den diesjährigen Platz 1, den Philosophen als dem Konformitätsdruck trotzend und bringt darin den Satz: "Die Politik verführt zum Gefälligkeitsdenken, die Medien verführen zur Selbstinszenierung, und die Universität verführt zur Resignation." Bolz' Formulierung trägt fast schon apodiktische Züge. Ist möglicherweise Verführung für die Phase 4.0 ein zentrales Thema?

Universitäten und Resignation? Wenn das zutrifft, was tun wir unseren Studierenden - und damit auch den Schüler*innen! - an? Bzw. was sollten wir tun, was bedeutet das für unsere Bildungssysteme?

Dirk Baecker: Ist das so? Die Politik verführt zum Streit, die Medien zur Empörung, die Universität zur engherzigen Karriere. Könnte man das nicht mit demselben Recht sagen? Ist eine engherzige, den fachwissenschaftlichen Kanon beachtende Karriere ein Zeichen von Resignation? Vielleicht.

Im Moment können wir Dinge dieser Art unter Professoren und Studenten tatsächlich beobachten. Ich verstehe das als ein Krisenphänomen. In der Wissenschaft, die man mit der Universität nicht identisch setzen darf, haben wir es mit breiten, von den Kognitionswissenschaften, der Mathematik und Informatik ausgelösten Auflösungstendenzen fachwissenschaftlicher Bezüge zu tun, gegen die sich die Universitäten wehren, weil sie in Fakultäten und entsprechenden Lehrstuhlzuordnungen organisiert sind, und gegen die sich auch die Studenten wehren, weil sie wissen wollen, mit welchen Berufsbildern sie aus dem Studium entlassen werden. Das kann man gut nachvollziehen. Aber es hilft ja nicht.

Die komplexen Fragestellungen der Gegenwart passen nicht in das Fächerschema eines aus dem 19. Jahrhundert stammenden Bilds der Wissenschaft, in dem es für viele Fächer darum geht, überhaupt als wissenschaftliche Disziplin anerkannt zu werden, auch für die Soziologie. Ich würde nicht von Resignation sprechen, aber ich möchte auch nicht in der Haut eines jungen Wissenschaftlers stecken, der sich heute für Themen, Theorien und Methoden entscheiden muss, von denen er nicht weiß, wie lange noch auf sie Verlass ist.

In einem 4-minütigen Interview für einen Internet-Themenabend des Senders Arte aus dem Jahr 1996 sprach der französische Kulturwissenschaftler Jacques Attali vom Internet als einer Plattform für das Entstehen von "überräumlichen Tribes", von möglicherweise "explodierenden Nationalstaaten" und einer "multidimensionalen Demokratie", die ausgehalten werden müsse. Die Tribes, die Stämme, scheinen direkt auf die von Ihnen mit 1.0 bezeichnete Phase und ihre gesellschaftliche Struktur zu verweisen. Im 2000 postum erschienenen Werk "Die amerikanische Apokalypse" von Gotthard Günther finden sich ähnliche Bemerkungen, die dahin deuten, dass eine kommende planetare Gesellschaft den Stammesgesellschaften aus 1.0 ähnlicher sein wird, als jeder anderen historischen Phase (S. 111ff).

Vier Punkt Null trifft auf Eins Punkt Null?
Ist es Ihrer Ansicht nach zulässig oder sinnvoll, wenn zu Stammesstrukturen die argumentativ vielbemühten Filterblasen und Echokammern aus den sogenannten sozialen Netzwerken assoziiert werden? Handelt es sich bei diesen Phänomenen möglicherweise um Vorformen einer kommenden eher tribalen Grundstruktur?

Dirk Baecker: Dass Attali und andere mit Recht von Stämmen reden, heißt noch nicht, dass wir es mit einer Stammesgesellschaft zu tun haben. Unsere gegenwärtige Gesellschaft ist nicht nur segmentär, sondern zugleich stratifikatorisch, funktional und netzwerkförmig differenziert. Das heißt, es gibt gleichwertig nebeneinanderliegende Einheiten, die man als Stämme beschreiben kann, die der Soziologe Gabriel Tarde aber bereits zu Beginn des vorigen Jahrhunderts als Publika, auf bestimmte Aufmerksamkeitstrigger bezogene "Öffentlichkeiten" beschrieben hat.

Es gibt gesellschaftliche Schichten ("Stratifikation"), die durch politische und ökonomische Strukturen, die kaum vertikale Mobilität zulassen, ungleich gesetzt und gehalten werden. Man denke nur an das wachsende Unterschichtenphänomen, dem der fehlende Arbeitsmarkt keine Mobilitätschancen mehr gibt, und die zugleich wachsende Oberschicht, die ihre Vermögen nicht mehr produktiv, sondern in segregierenden Luxus investiert.

Nach wie vor ist die Gesellschaft überdies funktional differenziert, denn wir können, ob wir dies nun "Systeme" oder "Wertsphären" nennen, Politik von Wirtschaft, Kunst von Religion und Recht von Erziehung unterscheiden, obwohl das immer schwieriger wird. Und es gibt eine netzwerkförmige Differenzierung nach "Disziplinen" (Harrison C. White), in denen "singuläre" (Andreas Reckwitz) Identitäten gepflegt werden, die typischerweise wirtschaftliche, politische, religiös-ideologische, pädagogische und ästhetische Ressourcen zugleich, aber in einer jeweils sehr spezifischen Auswahl, zu bündeln vermögen. Man denke an industrielle Branchen, politische Bewegungen, Kunstszenen, wissenschaftliche Moden oder auch religiöse Milieus, die man in der modernen Gesellschaft als Strukturen von Funktionssystemen beschrieben hätte, die aber typischerweise verschiedene Strukturen verschiedener Funktionssysteme zugleich in Anspruch nehmen und auf diese Art und Weise ein spezifisches Netzwerk im globalen Netzwerk der Gesellschaft bilden.

Diese Disziplinen oder "Kontrollprojekte" (Gilles Deleuze) kann man mit Stämmen verwechseln, die ja ebenfalls multifunktional strukturiert sind, aber damit verkennt man das Moment, das für Attali ja gerade so wichtig ist: ihre Fluidität, Spontaneität und Temporalität in der Opportunitätenstruktur einer nicht nur lokalen, sondern globalen Gesellschaft.

Mir scheint daher der Gedanke verfolgenswert, dass die Struktur der nächsten Gesellschaft nicht tribal ist, sondern eher im Sinne von Manuel Castells als komplexes Gewebe von sowohl Strata, Schichten, als auch Flows, Prozessen oder Strömen, zu beschreiben ist. Die sozialen Einheiten, die sich darin bilden und halten können, müssen sowohl Flows ausnutzen als auch Strata miteinander verknüpfen können. Für diese Problemstellung scheint es nur singuläre, also nicht verallgemeinerbare Lösungen zu geben, weswegen sich das Bild der nächsten Gesellschaft nicht mehr zu einer Ordnung rundet, die man insgesamt als vernünftig im Sinne der modernen, ebenso funktional wie rational geordneten Gesellschaft beschreiben kann.

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