"Der Nationalstaat ist eine Imagination der Selbstkontrolle"

Seite 4: "Ich hätte Angst davor, alles unter Kontrolle zu haben"

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Auf der anderen Seite lässt sich der Eindruck gewinnen, dass viele Protagonisten der sog. Künstlichen Intelligenz aus dem Silicon Valley unhinterfragt ein Weltmodell zugrunde legen, das, verkürzt ausgedrückt, davon ausgeht, dass unser Universum durch eine universelle Turing-Maschine (UTM) nahezu vollständig beschreibbar sei. Also Serialität und Berechenbarkeit als metaphysisches Apriori. Kritiker sehen darin möglicherweise zu Recht quasireligiöse Züge. Zum klassischen guten wissenschaftlichen Ton gehört es aber, die Randbedingungen der eigenen Hypothesen mit zu hinterfragen. Haben wir es mit einem Niedergang basaler wissenschaftlicher Vorgehensweisen zu tun oder ist dies "nur" ein wirkmächtiges Narrativ, oder gar etwas völlig anderes?

Dirk Baecker: Auch diese Beobachter sitzen ja in ihrer Blase. Sie können ebenso wie wir alle nur eigene Beobachtungen mit eigenen Beobachtungen verrechnen. Auf der einen Seite verfolgen sie mit Faszination, Schrecken und unglaublichen Gewinnen, wie ihre Technologien die Welt erobern und verändern. Und auf der anderen Seite fehlen ihnen die einfachsten soziologischen Kategorien wie Gesellschaft, funktionale Differenzierung, soziale Systeme oder Netzwerk (in einem soziologischen Sinn à la Harrison C. White), um auch nur ansatzweise zu verstehen, auf welche Resonanz sowohl ablehnender als auch annehmender Art ihre Technologien stoßen. Sie haben gar keine andere Wahl, als den Erfolg dieser Technologien der Art und Weise zuzurechnen, wie diese Technologien funktionieren. Und dazu gehören nun mal Serialität und Berechenbarkeit.

Vielleicht ahnt der eine oder andere, dass der Erfolg dieser Technologien mehr mit gesellschaftlicher Komplexität, gesellschaftlicher Orientierung und gesellschaftlicher Absorption von Ungewissheit zu tun hat. Aber wenn es der eine oder andere ahnt, wird es nicht zu einer eigenen und eigenständigen Gesellschaftstheorie hochgerechnet. Das überlässt man den Europäern und hält man im Zweifel für den Phantomschmerz zusammengebrochener feudaler Ordnungen, in denen es so etwas wie die Einheit einer Gesellschaft noch gab.

Dass Gesellschaft längst anders verstanden werden kann, muss man in Kalifornien nicht zur Kenntnis nehmen. Die Zeiten, in denen man es sich wie in den 1970er Jahren intellektuell nicht leisten konnte, eine Wissenschaft wie die Soziologie nicht zur Kenntnis zu nehmen, sind ja längst vorbei. Solange diese Technologien so erfolgreich sind, wird sich daran auch nichts ändern. Der Erfolg gibt ihnen Recht.

Gestatten Sie mir zum Schluss eine Frage zu Ihrer persönlichen Medienauswahl. Sie nutzen Twitter seit 2011. Vor dem Hintergrund der aktuellen Datenleaks und der fast schon permanenten Diskussion über Sinn und Unsinn von "sozialen" Netzwerken, wie nutzen Sie Twitter und was bringt es Ihnen?

Dirk Baecker: Twitter nutze ich, um ein Gefühl für die sozialen Netzwerke zu bekommen. Sogar auf Facebook habe ich mich eine Zeitlang herumgetrieben, bis mich dessen arbiträre Timeline jedoch eher gelangweilt als interessiert hat. Ich kann mich als Soziologe schlecht mit den Phänomenen der "digitalen Transformation" auseinandersetzen, wenn ich nicht am eigenen Leibe mit diesen nervösen Medien meine eigenen Erfahrungen gemacht habe. Dazu gehört nicht zuletzt auch die Erprobung des Suchtpotentials dieser Medien. Natürlich suche auch ich nach Anerkennung. Und wenn es Medien gibt, die diese Anerkennung in Echtzeit zu überwachen erlauben, so zufällig und belanglos vielfach auch ist, was man dort als Resonanz erfährt, dann ist die Versuchung schwer abzuweisen, sie nicht zu nutzen.

Mir ist der Gedanke nicht fremd, 10 oder 15 Jahre an einem theoretischen Hauptwerk zu arbeiten, um die Welt dann gleichsam aus dem Nichts damit zu überraschen. Aber ich halte es letztlich nicht aus, so lange vor mich hin zu arbeiten. Ich brauche die Rückkopplung, so peripher sie auch ist. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass es letztlich die Störungen sind, auf die man sich nicht freiwillig einlässt, die das größte Anregungspotential haben.

Deswegen arbeite ich auch gerne mit Studenten, beteilige mich gerne an der Universitätspolitik, gehe gerne ins Theater, wenn es Stücke der freien Szene sind, und wohne mal hier und mal da. Ich hätte Angst davor, alles unter Kontrolle zu haben. Auf Twitter kommt dann noch das sprachliche Moment hinzu. Die natürliche Sprache ist noch immer unser strukturmächtigster Algorithmus. Man darf nicht aufhören, sich in ihr zu üben und sie sich weiterentwickeln zu lassen.

Deswegen schreibe ich nach wie vor auf Deutsch, auch wenn das Interesse an der Systemtheorie hierzulande im Vergleich mit einer zwar auch nicht großen, aber doch lebendigen Diskussion weltweit eher gering ist. (Vielleicht muss ich aufhören zu schreiben, um anzufangen, meine Sachen mithilfe so schöner Programme wie DeepL zu übersetzen, aber werden mich meine alten Texte dann noch interessieren?) Und Twitter, so sage ich mir, ist das Medium, in dem nach wie vor der Aphorismus geübt werden kann, intertextuell durchsetzt mit Hyperlinks, intermedial angereichert mit Bild und Ton. Im Gegensatz zu dem Eindruck, den dieses Interview erweckt, mag ich knappe, kurz angebundene und elliptische, um mehr als ein Zentrum kreisende Sätze.

Herr Prof. Dr. Baecker, ich bedanke mich für das Interview.

Das Interview wurde für Telepolis von Dr. Joachim Paul geführt. Er ist Biophysiker und Medienpädagoge und arbeitet als wissenschaftlicher Referent am LVR-Zentrum für Medien und Bildung in Düsseldorf. Von 2012 bis 2017 war er Abgeordneter der Piratenfraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen und dort von 2012 bis 2015 Fraktionsvorsitzender.

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