"Der Nationalstaat ist eine Imagination der Selbstkontrolle"

Seite 3: Rekursive Systeme und algorithmische Komplexität

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In letzter Zeit häufen sich Argumentationsmuster seitens einiger Kritiker der Digitalisierung, dass im Silicon Valley "ein kybernetisches Menschenbild" gepflegt würde, das "antiaufklärerisch" sei. Dem gegenüber gibt es auch die These, dass die Kybernetik, insbesondere die Kybernetik 2-ter Ordnung, einer der wenigen wenn nicht der einzige nennenswerte Versuch des 20. Jahrhunderts gewesen sei, eine methodische Metawissenschaft zu etablieren, in der die Trennung zwischen den Geisteswissenschaften, bzw. den Humanities und den sui generis subjektlosen Naturwissenschaften im Hegel'schen Sinne aufgehoben ist, womit sie jedoch zwangsläufig in der Tradition der Aufklärung stünde. Und Heidegger äußerte in seinem letzten, postum erschienenen Spiegel-Interview gegen Ende lapidar, dass nach der Philosophie "die Kybernetik" käme.

Worum geht es hier? Sind die Argumente der Kritiker lediglich Ausdrücke einer Angst vor dem Verlust einer geisteswissenschaftlichen Diskurshoheit, oder steckt möglicherweise mehr dahinter?

Dirk Baecker: Die Kybernetik erster Ordnung hat sich mit der großartigen Entdeckung beschäftigt, dass komplexe Strukturen wie die des Organismus, des Gehirns, der Gesellschaft oder einer Familie auf einfache rekursive Strukturen zurückgerechnet werden können. Wie auch immer der Organismus aufgebaut ist, er gewinnt Leben aus Leben. Womit auch immer das Gehirn beschäftigt ist, es verknüpft neuronale Impulse mit neuronalen Impulsen. Wie auch immer eine Gesellschaft sich darstellt, sie reagiert mit Kommunikation auf Kommunikation. Oder welche Dramen auch immer sich in einer Familie abspielen, alle Familienmitglieder, selbst die möglicherweise verstoßenen, erkennen sich als Familienmitglieder.

Vor der Kybernetik hätte man Beschreibungen dieses Typs für leere Tautologien gehalten, die an der "Substanz", am "Wesen" der jeweiligen Phänomene vorbeigehen. Mit der Kybernetik entdeckte man, dass diese rekursiven, also sich selbst voraussetzenden und auf sich selbst laufend zurückkommenden Strukturen Operationen sind, die sich im Laufe der Evolution höchst unwahrscheinlich ausdifferenziert haben und in der Lage sind, sich in einer ganz andersartigen Umwelt zu erhalten. Die Tautologie ist eine Autologie, also alles andere als "leer". Die rekursiven Strukturen komplexer Phänomene sind prinzipiell "ungesättigt" (Gottlob Frege) oder "ergänzungsbedürftig" (Martin Heidegger), das heißt mit sich selbst nichtidentisch identisch.

Sie sind oszillierend sowohl auf die Welt als auch auf sich selbst angewiesen. Tatsächlich hatte man damit nur das Organismusproblem wiederentdeckt, mit dem sich schon die alten Griechen beschäftigt hatten: Wie kann ein Organismus, der sich in der Welt erhalten muss, zugleich offen und geschlossen sein? Aber man konnte dieses Problem jetzt auf spezifische Operationen herunterrechnen, deren empirisch nachgewiesen werden konnten. Insofern ist die Kybernetik erster Ordnung eine Wiederentdeckung des antiken Organismusproblems im Gewande der neurophysiologischen Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts und beginnenden 20. Jahrhunderts.

Das geschlossen operierende Gehirn wurde zum Paradigma, wie sehr man sich auch über alle Einzelheiten von dessen Operationen noch im Unklaren war. Im Rückblick kann es nicht überraschen, dass eine zugleich so einfache und weitreichende Entdeckung und Beschreibung zu den größten Hoffnungen nicht nur der Beschreibung, sondern auch der behutsam steuernden Beeinflussung komplexer Phänomene Anlass gab.

Man denke nur daran, wie sehr Margaret Mead und Gregory Bateson den Begründer der Kybernetik, Norbert Wiener, bedrängt haben, seine Einsichten nun auch endlich für Fragen der gesellschaftlichen Steuerung bereitzustellen. Wiener antwortete damals lapidar, dafür fehlten ihm hinreichend "lange Reihen" statistischer Daten. Was er meinte, war, dass die Grundeinsicht in rekursive Strukturen nur die erste Hälfte eines wissenschaftlichen Verständnisses ist, dessen zweite Hälfte ein alles andere als triviales Verständnis der empirischen Verhältnisse ist. Mit Big Data haben wir inzwischen diese "langen Reihen", aber die eigentliche Aufgabe, sie auf Strukturen zurückzurechnen, die rekursiv geschlossen sind, ist noch immer ungelöst.

Diese Kybernetik erster Ordnung hat seinerzeit so viel Steuerungsoptimismus ausgelöst, dass man vollkommen übersehen hat, dass es nach wie vor um komplexe Phänomene ging. Man könnte von einem nominalistischen Fehlschluss sprechen: Wenn man Phänomene als "komplex" benennen kann, hat man sie doch auch verstanden, oder? Man übersah, dass mit dem Begriff der "Komplexität" Eigenschaften von Phänomenen beschrieben wurden, die grundsätzlich jede Beschreibung überfordern. Algorithmische Komplexität zum Beispiel ist eine Komplexität, deren Beschreibung länger ist als jeder Algorithmus, der eine solche Beschreibung versucht. Der Begriff enthält eine Paradoxie, die den Übermut des Beobachters bremsen soll. Statt dessen hat man, wie Heinz von Foerster spöttisch bemerkte, die Anstrengungen verdoppelt und damit die Überforderung nur umso auffälliger gemacht.

In gewisser Weise ist die Kybernetik zweiter Ordnung eine Reaktion auf diese Geschichte voller Missverständnisse, einer Geschichte im Übrigen, die auch in ihrer jüngsten Aufarbeitung, die die Kybernetik für eine Erfindung Kalter Krieger hält, immer wieder falsch oder zumindest sehr verkürzt verstanden wird. Die Kybernetik zweiter Ordnung, angeregt von Margaret Mead und auf den Begriff gebracht von Heinz von Foerster, ist zunächst nichts anderes als das Ergebnis einer simplen Rückfrage: "Wer sagt das eigentlich, was die Kybernetiker sagen?"

Wie man hört, waren die Teilnehmer der berühmten Macy-Konferenzen, immerhin so berühmte Wissenschaftler wie John von Neumann, Claude E. Shannon, Warren McCulloch, Gregory Bateson und andere, untereinander über fast jedes Detail ihrer Einsichten in die Strukturen der Rekursivität zerstritten. Das lässt sich in den Protokollen der von Claus Pias erneut herausgegebenen Konferenz wunderbar nachlesen (Cybernetics/Kybernetik: Die Macy-Konferenzen 1946-1953, 2 Bde, Berlin 2004). Da konnte man schon einmal auf die Idee kommen, nachzufragen, wer eigentlich was sagt, das heißt: aus welcher Perspektive und mit welchen Standpunkten was behauptet wird.

Aber darüber hinaus hatte Heinz von Foerster nicht umsonst seinen Wittgenstein gelesen und den Tractatus sogar auswendig gelernt. Und nicht umsonst hatte von Foerster in den Jahren des 2. Weltkriegs in Berlin (er war als Physiker an der Radarforschung beteiligt) und danach in Wien (wo er sich am technischen Wiederaufbau des Rundfunks beteiligte und aus dem Osten in den Westen re-emigrierende Flüchtlinge für ein Kulturprogramm interviewte) die Welt aus den eigenartigsten Perspektiven kennengelernt. Er war in der Lage, Sprachspiele als solche zu beobachten und auch bei den größten Konflikten nicht zu übersehen, welche Familienähnlichkeiten ihnen zugrunde lagen. Er stellte daher die ebenso einfache wie weitreichende Frage nach dem Beobachter. Jetzt hatte man schon zwei ebenso einfache wie weitreichende Entdeckungen, jene der rekursiven Strukturen und jene des Beobachters.

Kybernetik zweiter Ordnung und nicht-triviale Maschinen

Die Kybernetik erster Ordnung ist seither die Kybernetik der (von außen) beobachteten Systeme, die man zum Teil als Maschinen oder Simulationen nachbauen kann, die sich jedoch ab bestimmter Komplexitätsschwellen trotz und gerade wegen ihrer einfachen rekursiven Struktur dem Verständnis und der Vorhersage, ganz zu schweigen von der Steuerung, durch diesen externen Beobachter entziehen. Komplexe Systeme nehmen auf sich auf eine Art und Weise Bezug, die vom Beobachter nicht nachvollzogen geschweige denn ersetzt werden kann. Das ist das berühmte und berüchtigte Problem der Selbstreferenz, die von außen nur unterstellt, aber niemals direkt beobachtet werden kann. Viele positivistisch eingestellte Wissenschaftler halten sie daher für einen Mystizismus.

Die Kybernetik zweiter Ordnung lässt sich von diesem Verdikt jedoch nicht abschrecken. Sie folgt von Foersters Vorschlägen des Einbaus von Nicht-Linearität in rekursive Funktionen und der Konzeption sogenannter nicht-trivialer Maschinen, die neben der üblichen Transformationsfunktion F trivialer Input/Output-Maschinen auch über eine Zustandsfunktion Z verfügen, die es ihnen erlaubt, laufend eigene Zustände abzufragen und neben dem Input als Entscheidungskriterium über einen möglichen Output zu verwenden.

Input und Output kann man von außen beobachten. Und man kann, wie W. Ross Ashby gezeigt hat, mit ihnen experimentieren, um ein eigenes Gedächtnis im Umgang mit einem komplexen System aufzubauen. Das führt zu einem Verständnis dieses Systems, das Ashby als "Kontrolle" des eigenen Verhaltens, nicht etwa des Systems beschrieben hat. Auf dieser Art von Kontrolle beruhen letztlich alle unsere Interaktionen mit komplexen Systemen aller Art, sei es mit unserem Körper, unserem Bewusstsein oder unseren sozialen Systemen und wohl zunehmend auch mit künstlichen Intelligenzen.

Luhmann hat später darauf hingewiesen, dass eine der Voraussetzungen dieser Art von Kontrolle darin besteht, dass die beteiligten Systeme laufend "zerfallen", das heißt immer wieder neu anfangen müssen und so laufend korrekturfähig (und auch: vergessensfähig) sind. Das wurde Luhmanns Mantra: Systeme zeichnen sich durch "vorübergehende Anpassungen an vorübergehende Lagen" aus. Wenn man will, kann man daraus eine Ethik der Komplexität gewinnen. Luhmann gewann daraus seinen Begriff temporalisierter Systeme, das heißt von Systemen, deren Elemente auftauchende und wieder verschwindende Ereignisse sind. Diese Systeme gewinnen ihren Strukturaufbau aus ihrem Strukturzerfall.

Für von Foerster wie auch für Luhmann hatte die Rede von der Zustandsfunktion einer nicht-trivialen Maschine jedoch noch eine weitere Konsequenz. Und erst diese führte zum Begriff der Kybernetik zweiter Ordnung. Offenbar können sich nicht-triviale Maschinen (= Modelle komplexer Systeme) selbst beobachten. Andernfalls wüssten sie nichts von ihren Zuständen. Damit wird eine Idee aufgegriffen, die bereits Warren Weaver in seinem Aufsatz "Science and Complexity" (American Scientist 36, 1948) formuliert hatte: Wenn komplexe Phänomene wie das Gehirn, die Gesellschaft oder eine Familie für externe Beobachter unzugänglich sind und dennoch existieren, wissen sie offenbar etwas über sich, was der Beobachter nicht weiß. Sie organisieren sich selbst, ohne fremde Hilfe, wenn auch laufend konfrontiert mit einer Umwelt, die ihnen, solange sie existieren, keine andere Wahl lässt. Von Foerster macht daraus die Idee der beobachtenden Systeme und geboren war die Kybernetik zweiter Ordnung.

Der Wissenschaftler wurde seines exklusiven Beobachterstatus beraubt. Auch Amöben, Zellen, Neuronen, Gehirne, psychische und soziale Systeme wurden in ihrem jeweiligen Medium als Beobachter konzipiert und Wissenschaftler, das war ja der überwältigende Eindruck ihres Streits auf den Macy-Konferenzen, landeten in ihren eigenen Beobachtungspraxen, gebunden an ihre eigenen Unterscheidungen, verheiratet mit ihren eigenen Ausgangspunkten und Erfahrungen, kognitionswissenschaftlich "priors" genannt (nicht mit Klostervorstehern, Prioren, zu verwechseln).

Aber was beobachten diese Systeme? Offenbar sich selbst, wenn man weiterhin dem Paradigma der Neurophysiologie, das heißt dem Paradigma operational geschlossener Systeme folgt. Das Gehirn gewinnt aus neuronalen Impulsen und aus nichts anderem als neuronalen Impulsen, ergänzt durch deren laufende Irritation durch sogenannte Sinneseindrücke, aber auch durch eigene Erregungszustände, das optische, akustische, olfaktorische, gustatorische und taktile "Bild" einer äußeren Welt. Und das Bewusstsein, so Luhmanns Bemerkung, hilft dem Organismus bei dieser internen Informationserarbeitung, indem es die entstehenden Bilder und Vorstellungen der externen Welt und nicht etwa dem eigenen Organismus zurechnet. Das Bewusstsein "löscht" Informationen über den Ort, an dem Wahrnehmung tatsächlich stattfindet (Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main, 1995, S. 14, Anm. 5). Statt dessen beschäftigt es sich mit seinen eigenen Vorstellungen von Vorstellungen von Vorstellungen.

Und das erst bringt die Komplexität zurück ins Bild. Denn jetzt kann man, damit beschäftigt sich die Kybernetik zweiter Ordnung, Beobachtungen zweiter Ordnung als das eigentliche Material verstehen, aus dem komplexe Systeme gestrickt sind. Für soziale Systeme heißt das, dass Politiker Politiker, Unternehmer Unternehmer, Lehrer Lehrer, Schüler Schüler, Ärzte Ärzte und Patienten Patienten beobachten - und zwar jeweils beim Beobachten beobachten. Das kann sich dann zu Rollenstrukturen und anderen Identitäten verfestigen, aber ist das fluide Material, aus dem sich diese Systeme gewinnen und als das sie sich reproduzieren. Die soziologische Systemtheorie ist nichts anderes als der Versuch, diese Erkenntnis auszubuchstabieren.

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