Der Papst ist müde

Seite 4: Thema Nr. 1 der Außenwahrnehmung: Sexual- und Frauenfeindlichkeit

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Im Focus der öffentlichen Außenwahrnehmung zum Papstbesuch stehen sexualisierte Gewaltdelikte sowie Sexual- und Frauenfeindlichkeit der Kirche ganz oben auf der Themenliste. Die kirchenamtliche Homophobie hat seit den 80er Jahren ja wirklich geradezu groteske Züge angenommen, und ein Gleiches gilt für die theologischen Stellungnahmen zu Genderfragen. Die entsprechenden Anschauungen spielen in katholischen Verbänden und bei jungen Christen keine Rolle mehr. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass selbst junge US-Evangelikale zu 44 Prozent die Möglichkeit einer "Eheschließung von gleichgeschlechtlichen Partnern" befürworten (eine knappe Mehrheit der US-Katholiken denkt ebenso).

Obwohl einige mächtige Kirchenleiter es noch nicht mitbekommen haben, hat sich die Welt im neuen Jahrtausend sehr gewandelt. Sie bewegt sich zumindest in der Frage der sexuellen Orientierung in einer guten Linie hin zu mehr Respekt vor den Menschenrechten. Die schwul-lesbischen Proteste zum Papstbesuch täten allerdings gut daran, nicht den Anschein zu erwecken, es gehe nur um eine erbitterte Auseinandersetzung mit dem "Übervater" (die menschenrechtsfeindliche Diskriminierung kirchlicher Arbeitsnehmerinnen und Arbeitsnehmer ist indessen wirklich eine hochpolitische Protestfrage). Der amtliche Katholizismus ist in Sachen "Sexualität" heute ein Fall für Seelsorge. Er braucht Hilfe. Das sollte auch zum Ausdruck kommen.

Nun muss man also zur Kenntnis nehmen, dass die römische Kirche vor allem dort, wo es wirklich zu menschenfreundlichen Fortschritten in der Gesellschaft gekommen ist, als Gegenerin wahrgenommen wird. Noch nie haben wir davon gehört, dass Finanzkapitalisten, Kriegsgewinnler oder Folterer zu einer Demonstration gegen den Papst aufrufen. Das sollte doch zu denken geben.

Der absurde Vorwurf des "Nationalkirchentums" an die Reformer

Als Linker mit katholischer Sozialisation und Identität respektiere ich ehrenwerte Katholiken mit anderem politischen Standort wie etwa Heiner Geißler, Bundespräsident Christian Wulff oder Norbert Lammert (nicht von ungefähr kann man bei Matthias Mattusek, der ein Apologet von Henryk M. Broder und Thilo Sarrazin ist, über diese Namen nicht viel Gutes nachlesen).

Bei den bekümmerten Katholiken im christdemokratischen Spektrum lassen sich beim besten Willen keine nationalkirchlichen Ambitionen ("deutscher Sonderweg" etc.) erkennen, und das gilt ohne Abstriche auch für die sehr zahlreichen organisierten Reformkatholiken in Deutschland und Österreich, die ich kenne. Im Reformkatholizismus ist der weltweite konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung fest verankert (was man von den Szenen der Neupapisten wohl kaum behaupten kann). Welche staatsfernen Vorstellungen bezogen auf die Kirchengestalt im eigenen Lande vorherrschen, kann man in Friedhelm Hengsbachs neuem Kirchenreformbuch "Gottes Volk im Exil" (2011) nachlesen.

Da nun aber in der Geschichte des älteren Reformkatholizismus rechte und nationalkirchliche Tendenzen ("Germanisches versus Romanisches") tatsächlich eine nicht geringe Rolle gespielt haben, kommt der Vorwurf "nationalkirchliches deutsches Eigenbrödlertum" einem Totschlagargument sehr nahe. Anderswo - etwa in Lateinamerika - geht man mit römischen Vorgaben wohl oft viel freier und kreativer um als im deutschsprachigen Bereich und verzichtet deshalb eher auf kirchenpolitisches Engagement.

Doch die klassischen Reformforderungen, wie sie hierzulande seit der Würzburger Synode immer und immer wieder - vergeblich - formuliert werden, unterscheiden sich kaum von dem, was der Reformkatholizismus auf dem ganzen Globus vorträgt. Die weltweite Vernetzung und Zusammenarbeit der Reformer ließe sich allerdings noch um einiges verbessern.

Das Gerede von einem singulär in deutschen Landen sterbenden Katholizismus kann sehr leicht als Fiktion entlarvt werden, wenn man nach Italien, Frankreich, Spanien oder sogar auch Polen schaut (beim Niedergang in Lateinamerika hat Rom selbst ganze Vorarbeit geleistet). Über das kritische Verhältnis des Vatikans zu den Nationalstaaten erfährt man darüber hinaus einiges, wenn man die staatlichen Aufwendungen für Besuche des Papstes ins Blickfeld nimmt (sofern sie den Steuerzahlern jeweils wahrheitsgetreu mitgeteilt werden).

Der Ultramontanismus liquidiert das eigene Milieu

Der Ultramontanismus (romzentrierte Katholizismus), der in seiner Frühzeit durchaus auch emanzipatorische Potenzen aufwies, hat - nach der Säkularisation - das Programm "Bündnis von Kirche und Volk" betrieben. Zwischen 1850 und 1950 sorgte er für eine Verkirchlichung ganzer Landschaften und Milieus, wie es sie in dieser Form bis dahin wohl nie gegeben hatte. In einigen ländlichen Gebieten, so in meiner sauerländischen Kinderheimat, war die "katholische Himmelskuppel" trotz mannigfacher Risse im Gewölbe noch bis in die 1960er Jahre hinein oder länger intakt.

Wenn ich die Magie der katholischen Landschaft in Kirchenreformvorträgen in zu schönen Farben male (weil mir die regressiven Kindereien eines Matthias Matussek selbst nicht ganz fremd sind), protestieren mit Regelmäßigkeit vor allem die Alten. Sie erinnern an die Heucheleien, die religiösen Angstneurosen und mancherlei andere Bedrückungen in den geschlossenen katholischen Milieus.

Das Ende der katholischen Landschaft im Eichsfeld, im Sauerland, in Tirol oder sonstwo ist indessen längst besiegelt. Ein beispielloser Traditionsabbruch, der keineswegs erst nach dem Reformkonzil eingesetzt hat, ist vollzogen. Die Milieus des sozialen Leutekatholizismus waren aufgrund einer gefestigten Gemeinschaftsidentität durchaus nicht anfällig für fundamentalistische Hirngespinste. Sie prägen auf unterschiedliche Weise bis heute in vielen Dörfern das soziale Zusammenleben.

Noch gibt es eine allerletzte Generation, die im Rahmen eines Zeitfensters von etwa zehn oder fünfzehn Jahren als Brückengeneration aktiv an einer neuen Gestalt von Kirche vor Ort mitarbeiten könnte. Doch hier erweist sich der heutige Ultramontanismus, wie er von Papst und vielen Bischöfen vertreten wird, als der entscheidende "Liquidator" des Milieus. Die gesamte Pastoralplanung wird auf eine Priesterkirche (mit immer weniger und immer unglücklicheren Priestern) ausgerichtet.

Immer mehr Dorfkirchen - mit manchmal tausendjähriger Geschichte - stehen leer. Die Zahl der ohnehin schon anonymen Großgebilde wird erneut halbiert (die Pfarrverbünde etc. werden also doppelt so groß); ganze Landkreise werden zum Dekanat. Durch solche Brachiallösungen werden die jetzt noch anzutreffenden menschlichen Reichtümer einer nahen Kirche am Ort systematisch abgewürgt. Am Ende stehen einige wenige zentralistische "Priesterwallfahrtsstätten", zu denen dann noch eine traditionalistische Minderheit am Sonntag mit dem Autor vorfährt.

Es gibt allseits bekannte Alternativen, so etwa in der französischen Diözese Poitiers . Sogenannte Laien erfüllen die von ihren Vorfahren (nicht von Bischöfen) erbauten Dorfkirchen mit neuem Leben. Wo die Vertreter einer narzisstischen Priesterideologie und eines klerikalen "Eucharistismus" - mit z.T. schon wahnhaften Zügen - solche Wege verbauen, bleibt den Gläubigen nichts anderes übrig, als die Kirchenschlüssel in ihre eigene Obhut zu nehmen.