Der Rauch ist verflogen und alle Fragen sind offen

Drei Wochen nach dem Attentat in Burgas wuchern vor allem die Spekulationen

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"Wir unternehmen maximale Anstrengungen, damit alle beruhigt schlafen", antwortete Bulgariens Innenminister Tsvetan Tsvetanov im Frühstücksfernsehen des Bulgarischen Nationalen Fernsehens (BNT) auf die Frage zum Stand der Ermittlungen zum mutmaßlichen Bombenattentat auf dem Flughafen Burgas am 18. Juli 2012. Fünf israelische Touristen, ihr bulgarischer Busfahrer und ein als Selbstmordattentäter verdächtigter Mann kamen dabei ums Leben. Minister Tsvetanov wollte keineswegs ausdrücken, die bulgarischen Ermittler lägen auf der faulen Haut, in diesem Sinne wurden seine Worte aber interpretiert, konnten die "kompetenten Behörden" der bulgarischen Öffentlichkeit doch im Verlaufe von drei Wochen seit der fatalen Explosion keinerlei neue nachweisliche Fakten mitteilen. Stattdessen nährten sie mit unzusammenhängenden, teils grob widersprüchlichen Aussagen einen Wildwuchs der Spekulation.

Unmittelbar nach dem mutmaßlichen Sprengstoffanschlag hatte Israel die libanesische Hisbollah im Auftrag des Irans dafür verantwortlich gemacht, fast ebenso schnell präsentierte das bulgarische Innenministerium einen vermeintlichen Selbstmordattentäter. Es veröffentlichte Aufnahmen einer Überwachungskamera der Ankunftshalle des Flughafens Burgas, die einen langhaarigen Rucksacktouristen in Bermuda-Shorts zeigen. Er besitzt keinerlei Charakterisik eines herkömmlichen Selbstmordattentäters. Drei Kilo TNT seien im Rucksack des jugendlich wirkenden Mannes explodiert, als dieser ihn im Gepäckfach des Reisebusses der israelischen Touristen verstauen wollten, lautete die offizielle Ausgangsversion zu dem Geschehen.

Bild: Interpol

Einhundert Meter weit sei sein Kopf geflogen, verlautbarte Bulgariens Ministerpräsident Boiko Borissov auf die Frage nach dem Ablauf der Explosion. Immerhin habe man aber von der Leiche des Mannes DNA-Proben und sogar Fingerabdrücke nehmen können. Deren Abgleich mit den Datenbanken der internationalen Sicherheitsbehörden werde hoffentlich eine zügige Identifizierung des Toten ermöglichen. Auch Innenminister Tsvetanov stellte schnelle Fahndungserfolge in Aussicht, verwies auf die Sicherstellung von einhundertvierzig Säcken Beweismaterial. Auch sei in der Kleidung des Mannes ein offensichtlich gefälschter, vorgeblich im US-Staat Michigan ausgestellter Führerschein gefunden worden, ausgestellt auf den Namen Jaque Felipe Martin.

Der öffentlich bekannte aktuelle Kenntnisstand geht über die Beweislage der ersten Tage nach dem Ereignis nicht hinaus, der wirkliche Namen des langhaarigen Rucksacktouristen und seine Herkunft sind ebenso unbekannt wie Tag und Ort, an dem er bulgarisches Territorium betreten hat, falls er überhaupt aus dem Ausland eingereist sein sollte. Selbst ob er überhaupt identisch ist mit dem siebten Toten, wurde von Gerichtsmedizinern der Klinik Burgas bereits in Frage gestellt. Sie taxierten das Lebendgewicht des von ihnen autopsierten Mannes auf über einhundert Kilogramm, schätzten das Gewicht des gefilmten Langhaarigen auf nicht mehr als achtzig Kilogramm. Sogar über die elementare Frage, ob der Rucksacktourist eine Perücke trug und der Tote tatsächlich kurzes Haar hatte, machten Staatsanwaltschaft und Gerichtsmedizin widersprüchliche Aussagen.

Wenn nichts bekannt ist, ist alles möglich

Vielleicht handle es sich ja gar nicht um einen terroristischen Akt im politischen Sinne, sondern um eine tödliche Auseinandersetzung krimineller bulgarischer Banden etwa aus dem Drogenmillieu, lautet eine der lancierten Theorien. Eine andere, zuletzt verstärkt Popularität gewinnende "Version" besagt, der Bombenträger habe gar nicht gewusst, dass er eine Bombe im Gepäck hatte, sondern von sich geglaubt, ein Drogenkurier zu sein. Seine vermeintlichen Komplizen hätten ihn aus der Distanz in die Luft gesprengt.

Angesichts des absoluten Nebels um Ablauf, Hintergründe und Urheberschaft der Explosion von Burgas ist das Aufblühen von Verschwörungstheorien unvermeidlich. Die vom iranischen Gesandten bei den Vereinten Nationen Mohammed Chasai vertretene Behauptung, in Wirklichkeit handle es sich um eine sogenannte False Flag Operation der israelischen Geheimdienste, die den Zweck verfolge, das politische Terrain für einen Krieg gegen den Iran zu bereiten, findet derzeit unter bulgarischen Kommentatoren etwa in Internet-Foren immer stärkeren Zulauf.

Fünf bildliche Darstellungen des vermeintlichen Selbstmordattentäters - Innenminister Tsvetanov nennt ihn vorzugweise den "Kamikazen" - wurden bisher veröffentlicht. Nach Verbreitung der Filmaufnahme der Überwachungskamera und dem Portraitbild des angeblich gefälschten Führerscheins wurde ein Phantombild veröffentlicht, das einen hageren, kurzhaarigen Mann zeigte. Zur allgemeinen Verwirrung schrieben sie manche Medien dem Selbstmordattentäter zu, andere wiederum seinem angeblichen Komplizen.

Der Gerichtsmediziner Dr. Kossio Jankov, der die Autopsie an dem unbekannten Toten durchgeführt hat, kritisierte eine knappe Woche nach der Explosion das Vorgehen der bulgarischen Ermittlungsbehörden scharf: "Ich kann nicht verstehen, warum die Behörden nicht die bei der Autopsie von mir gemachten Fotos des Gesichts des Unbekannten veröffentlichen, die sogar als Passbilder taugten. Stattedessen haben sie ein Phantombild veröffentlicht, das allen und jedem ähnelt", sagte Jankov. Wenige Tage später veröffentlichte der bulgarischer Partner von Wikileaks Bivol.bg Jankovs Fotoaufnahmen des Toten. Erst danach verbreiteten die offiziellen Stellen ein erneutes computergenerierte Phantombild auch über Interpol.

Phantombild des Toten. Bild: Internetpol

Während nichts darüber bekannt ist, dass sich Zeugen gemeldet hätten, die den Mann auf der Autopsiefotos gesehen haben wollten, wurde dagegen berichtet, über zweitausend Menschen hätten ausgesagt, dem Mann auf dem neuen Phantombild begegnet zu sein. Manche wollen ihn sogar nach dem 18. Juli 2012 in der bulgarischen Hauptstadt Sofia gesehen haben. "Das ist ja wohl schlecht möglich, denn da sollte er ja bereits tot gewesen sein", kommentierte dies der Sofioter Ermittler Valeri Jordanov.

Bundesregierung will Beitritt zum Schengener Abkommen hinausziehen

"Bulgarien wird niemals den brutalen Terrorakt gegen israelische Touristen auf dem Flughafen Burgas vergessen und die Schuldigen werden gefunden und bestraft werden, koste es, was es wolle", sagte Bulgariens Staatspräsident Rossen Plevneliev am vergangenen Mittwoch. Vor dem Hintergrund des chaotischen Verlaufs der Ermittlungen wirkt die Gewissheit des Präsidenten gekünstelt. Bulgarien hat eine Tradition unaufgeklärter Auftragsmorde und alles deutet darauf hin, dass sich die Explosion von Burgas in die lange Liste ungelöster Kriminalfälle in Bulgarien einreihen wird.

Rumänien und Bulgarien hätten zwar die technischen Voraussetzungen für einen Beitritt zum Schengener Abkommen erfüllt, dennoch sei die Bunderegierung dafür, dass der Beitritt der beiden Länder verschoben werde, sagte Innenminister Hans-Peter Friedrich vor einigen Tagen dem Hamburger Abendblatt. Zwar gebe es in Bulgarien Fortschritte bei der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität, leider sei aber "die Entwicklung in Bulgarien nicht so weit wie erhofft". Friedrich nahm bei seiner Aussage keinen Bezug zum Attentat von Burgas, er dürfte eher den kritischen Befund des letzten Evaluationsberichts zum Stand Inneres in Bulgarien im Sinne gehabt haben, den die Europäische Kommission genau am Tag der Explosion von Burgas vorgelegt hat.

Das völlige Fehlen einer nachvollziehbaren Ermittlungstätigkeit der bulgarischen Behörden scheint Innenminister Friedrichs Skepsis indes zu bestätigen. Gezielt oder fahrlässig - das Einzige, was die "maximalen Anstrengungen" der bulgarischen Ermittler zu bewirken scheinen, ist die Desinformation der bulgarischen und der internationalen Öffentlichkeit.