Der Sieger weint

Irak: die Stunde der Muslime

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Die Puppen können gehen, die Stimmen sind gezählt und alle Fragen offen. Die schiitische "United Iraqi Alliance" ist der Sieger der irakischen Wahlen zur vorläufigen Nationalversammlung. Mit 140 Sitzen verfügt sie über die Mehrheit im 275 Sitze starken Parlament. Das Ergebnis markiert eine historische Wende. Nach jahrzehntelanger Herrschaft der Sunniten werden jetzt Repräsentanten der schiitischen Bevölkerungsmehrheit des Landes die irakische Politik wesentlich bestimmen. Wie sie dabei verfahren werden, hat Signalwirkung auf die gesamte Region.

Der Sieger weint. Auf einem AP-Foto sieht man den SCIRI-Führer, den Frontmann der schiitischen Liste, Abdel-Asis al Hakim, in Tränen, nachdem er das offizielle Wahlergebnis erfahren hat. Für böse Zungen ist nicht so recht klar, ob al-Hakim weint, weil es die Schiiten endlich geschafft haben oder aus Enttäuschung. Letzte Woche noch hatte sich al-Hakim nämlich vorzeitig und sehr gewiss als Sieger mit einer überwältigenden Mehrheit von 60 Prozent gewähnt (vgl. Nach dem Fest der Demokratie). Tatsächlich erzielte die "United Iraqi Alliance (UIA)", ein Bündnis der großen schiitischen Parteien Dawa und SCIRI sowie kleineren Parteien, "nur" 48 Prozent. Dank der "Hare-Quota" wurden der UIA jedoch anteilmäßig 140 Sitze zugerechnet: eine hauchdünne, aber absolute Mehrheit. Sie dürfte für viele politische Entscheidungen reichen, zumal sie dafür auf die Stimmen der kleineren islamisch gefärbten Gruppierungen, wie z.B. die Fraktion der Muktada as-Sadr-Sympathisanten (vgl.Schlaumeier Muktada as-Sadr), zählen kann.

Für die anstehende Regierungsbildung benötigt die schiitische Allianz allerdings einen Bündnispartner, denn dafür ist eine 2/3 Mehrheit nötig. Sehr wahrscheinlich wird sich die "United Iraqi Alliance" für die Wahl des Präsidenten und seiner beiden Stellvertreter mit der zweiten großen Liste, der kurdischen Allianz, die von den beiden großen kurdischen Parteien dominiert wird, zusammen tun. 75 Sitze bringt die kurdische Liste in die Verhandlungen mit ein, was ihr, wie erwartet, zur Rolle des "Königsmachers" verhilft. Der noch amtierende Interims-Ministerpräsident Allawi schaffte es mit seiner "Irakischen Liste" nur auf Platz drei (40 Sitze, 13 Prozent). Es gilt als wenig wahrscheinlich, dass er erneut als Ministerpräsident vorgeschlagen wird, aber selbst diese Möglichkeit taucht in den vielen Spekulationen über die Zusammensetzung der künftigen Regierung auf.

Während in den Hinterzimmern die Verhandlungen über die wichtigsten Posten längst laufen, hat auch das Karussell der Spekulationen volle Fahrt aufgenommen. Dabei geht es nicht nur um Personalien, sondern vor allem um die grundlegende Richtung, die das schiitisch-kurdische Bündnis einschlagen wird: Wie islamisch die neue irakische Führung das Land machen will, wie die Verbindungen zum benachbarten Iran aussehen, wie sich die neue Regierung zur amerikanisch geführten Besatzung stellen wird.

Die Wiedergeburt des Islam aus dem Geiste der Demokratie?

So wertet die Washington Post den Sieg der schiitischen und kurdischen Listen als "one of the greatest ironies" des US-Einmarsches im Irak. Statt einer säkularen Regierung, die eine Antithese zum benachbarten Mullah-Regime bilden sollte, wie es sich die Bush-Regierung vorgestellt hatte, habe das wählende Volk sich für eine Regierung entschieden, die eine starke religiöse Basis habe und zudem die besten Verbindungen zum Nachbarland Iran halte. Mehr als 70 Prozent der Wählerstimmen gingen an die "engsten Verbündeten Irans im Irak". Von den SCIRI-Mitgliedern ist zwar bekannt, dass sie lange Jahre während der Regentschaft von Saddam Hussein im iranischen Exil verbrachten, auf einige Dawa-Politiker trifft dies auch zu, und man weiß, dass die schiitischen Milizen, wie die Badr-Brigade, im Iran ausgebildet wurden, aber die Kurden?

"Diese Regierung wird sehr gute Verbindungen mit dem Iran haben. Der kurdische Sieg bestätigt diese Folgerung. Talabani steht Teheran sehr nahe", weiß Juan Cole und folgert weiter:

Was die regionale Geopolitik der USA betrifft, war das (Wahl)Ergebnis nicht das, was die Vereinigten Staaten sich erhofften.

Konnten die US-Regierungen, gleichviel ob Demokraten oder Republikaner, jahrzehntelang Bagdad gegen Teheran ausspielen, so dürfe dies in der nächsten Zeit nicht mehr möglich sein. Wahrscheinlich sei jetzt eher, dass der Irak wie der Iran ganz ähnliche Positionen einnehmen würden, zu vielen Punkten, angefangen vom Ölpreis bis hin zur US-Politik gegenüber dem Iran:

Wenn die USA sich vor drei Jahren dazu entschieden hätte, den Iran zu bombardieren, hätte dies Freude in Bagdad hervorgerufen. Jetzt hätte dies starke Proteste in Bagdad zur Folge.

Wie nahe Al-Hakim oder Al Sistani, die große Eminenz der Schiiten im Hintergrund, den Mullahs im Iran auch immer stehen - beide haben in der Vergangenheit immer wieder ihre Distanz zum iranischen Modell betont -, sicher ist, dass sie dem "neuen Irak" eine dezidiert islamische Färbung geben wollen. Anzeichen dafür kann man nach einem Bericht der irakischen Bloggerin Riverbend schon jetzt im Alltag erleben (z.B. Wächter über die religiöse Kleiderordnung in öffentlichen Ämtern). In diesem Zusammenhang ist auch ein anderes Ergebnis der irakischen Wahlen bemerkenswert, das bislang weitgehend unbeachtet blieb: der Ausgang der Regionalwahlen. Nach den Auszählungen von 12 Provinzen stellte sich am vergangenen Freitag nämlich heraus, dass islamische Parteien in den Provinzräten stark vertreten sein werden. Für Dschalaledin Saghir, einen prominenten Prediger in Bagdad, eine "klare Botschaft an alle politische Parteien, die islamische Identität des Volkes zu respektieren".