Der Stoff, aus dem wir sind

Seite 2: Das mechanistische Weltbild und der Tod des Universums

Als die modernen Naturwissenschaften vor gut 400 Jahren in Europa entstanden, war noch nicht ausgemacht, in welche Richtung sie sich entwickeln würden. Der Astronom, Mathematiker und Philosoph Johannes Kepler (1571-1630), einer der Wegbereiter der neuen Wissenschaften, glaubte etwa, dass die Erde ein lebendes Wesen sei und eine Seele besitze, die "anima terrae". Die Vorstellung einer toten, seelenlosen Natur war ihm wie vielen anderen Renaissance-Gelehrten fremd. Kepler nahm an, dass der gesamte Kosmos, einschließlich der Erde, ein zusammenhängendes Ganzes sei. Das Universum war in seinen Augen in musikalischen Harmonien geordnet, die sich in bestimmten Zahlenverhältnissen spiegelten.

Die Vorstellung eines toten und leeren Universums, wie es Monod später skizzierte, war zu keinem Zeitpunkt seit Kepler Konsens unter führenden Wissenschaftlern (ganz zu schweigen von der übrigen Bevölkerung und außereuropäischen Kulturen). Selbst Isaac Newton, der gemeinhin als Vollender des mechanistischen Weltbildes gilt, sah den gesamten Kosmos als eine Einheit, die zugleich geistig und materiell ist.

Trotz des Einspruches hochrangiger Forscher setzte sich jedoch in Europa seit dem 17. Jahrhundert nach und nach eine "mechanistische" Konzeption der Natur durch. "Mechanistisch" bedeutet hier die Vorstellung, dass alles in der Natur berechenbaren Gesetzen von Ursache und Wirkung folgt, wie man sie etwa beim Stoß von Billardkugeln finden kann: Eine Ursache A bringt durch einen Stoß eine vorhersagbare Wirkung B hervor.

Diese Art zu denken wurzelt in einer grundlegenden menschlichen Erfahrung von Kausalität. Kleine Kinder etwa haben große Freude daran, herauszufinden, wie sie durch Schieben, Ziehen und Stoßen Dinge bewegen können. Wenn man etwas ihrem Blick zunächst entzieht und dann heimlich verschwinden lässt, suchen sie intuitiv nach einer mechanischen Ursache: Jemand oder etwas muss dieses Ding verschoben oder weggenommen haben. Diese Hypothese von Kausalität durch Berührung und Krafteinwirkung ist für einen bestimmten Bereich von Erscheinungen ausgesprochen hilfreich und plausibel, sie hat einen wichtigen evolutionären Sinn, vor allem, was die Tätigkeit mit unseren Händen und den Gebrauch von Werkzeugen angeht.

Kinder lernen aber mindestens ebenso früh auch noch eine ganz andere Art von Kausalität kennen, die ohne Berührung funktioniert und weit weniger vorhersagbar ist. Ich weine, und jemand kommt (manchmal aber auch nicht); ich bewege mich ruckartig, und die Katze verkriecht sich blitzschnell unter dem Sofa (manchmal aber auch nicht); ich lache, und jemand anders lacht mit (manchmal aber auch nicht).

Das Kind lernt auf diese Weise, dass die Kausalität in der Welt der Lebewesen ganz anders funktioniert als in der Welt von Bauklötzen und Babyrasseln; dass Lebewesen nicht allein auf Stöße reagieren, sondern auch und vor allem auf Gesten, Zeichen und Laute. Und auch diese Erkenntnis hat einen fundamentalen, lebenswichtigen Sinn.

Die mechanistische Philosophie und Wissenschaft in ihrer reinen Form nun behauptet, dass diese zweite Form der Kausalität eine Illusion sei; dass also auch das Leben, genau wie die Welt der Bauklötze, in Wahrheit auf Stößen von Partikeln beruhe, die nur so klein seien, dass wir sie mit bloßem Auge nicht sehen können. Aus dieser Hypothese formulierten die frühen Mechanisten im 17.  Jahrhundert ein umfassendes Forschungs- und Welterklärungsprogramm, das einen ebenso universalen Wahrheitsanspruch wie das Christentum geltend machte - wobei die neuen Gewissheiten nicht aus heiligen Schriften zu beziehen seien, sondern aus überprüfbaren Experimenten.

Doch je mehr die Wissenschaft über die Jahrhunderte in die Materie eindrang und sie in immer kleinere Teile zerlegte, desto mehr entzog sie sich ihr. Atome erwiesen sich nicht als feste Kügelchen, sondern als zusammengesetzt aus lauter noch kleineren Einheiten, die sich bei näherer Betrachtung in substanzlose Energie- oder gar Wahrscheinlichkeitswellen auflösten.

Währenddessen versuchten Biologen, das Leben als eine Art Uhrwerk zu verstehen, so wie man zuvor die Himmelsmechanik wie ein Uhrwerk studiert hatte. Doch die Prämisse, dass die Welt ausschließlich von mechanischen Ursachen bewegt sei, führte unweigerlich dazu, dass die Forscher das, was Leben ausmacht, nicht zu fassen bekamen. Die Eigendynamik, Spontaneität und Kreativität des Lebendigen blieben ebenso unerklärlich wie das Phänomen des Bewusstseins. War zuvor, in einem als lebendig verstandenen Kosmos, der Tod das große Rätsel, so schien nun, in einem Universum aus toter Materie, das Leben ein verwirrendes Mysterium.

Die Entdeckungsreisen und Irrfahrten der Physik und Biologie haben, das ist eine der wesentlichen Thesen meines neuen Buches, die Rätsel unserer Existenz keineswegs gelöst, sondern vertieft, präzisiert und in immer größerer Deutlichkeit hervortreten lassen. Das ist keineswegs nur eine Niederlage, sondern auch ein großes Verdienst. Denn sie zwingen uns, wenn wir sie ernst nehmen, dazu, unser Bild des Universums und unserer selbst grundlegend zu überdenken.