Der Stoff, aus dem wir sind
Seite 3: Naturwissenschaften in der modernen Megamaschine
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- Das mechanistische Weltbild und der Tod des Universums
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Die Durchsetzung der mechanistischen Philosophie spielte sich nicht zufällig in der Zeit eines gewaltigen gesellschaftlichen Umbruchs ab: der Entstehung des kapitalistischen Weltsystems. Während Galileo Galilei am Anfang des 17. Jahrhunderts an den Fallgesetzen arbeitete und die Phasen der Venus mit seinem selbstgefertigten Teleskop studierte, eröffnete in Amsterdam die erste Aktiengesellschaft der Welt und wenig später die erste dauerhafte Wertpapierbörse. Zugleich schufteten Zehntausende indigener Zwangsarbeiter in den spanischen Silberminen Boliviens, um den rasant wachsenden Geldhunger Europas zu befriedigen.
Ein beträchtlicher Teil dieses Silbers wiederum floss durch die Hände Genueser und Augsburger Bankiers in die boomende Rüstungsindustrie, die Kriege bisher unbekannter Zerstörungskraft ermöglichte. Galileo selbst verwandelte sein Haus in Padua in eine Art Militärakademie, wo er Offiziere in Kriegsführung, Geometrie und Festungsbau unterrichtete. Das von ihm entwickelte Fernrohr sollte ursprünglich vor allem militärischen Zwecken dienen. Und das Silbergeld, das er verdiente, stammte mit einiger Wahrscheinlichkeit aus den Minen Südamerikas.
Die Verbindung von endloser Geldvermehrung, staatlichem Expansionsdrang und rasanter technischer Entwicklung sollte diese moderne "Megamaschine" zum dynamischsten und aggressivsten System der Weltgeschichte machen. Sowohl der Kapitalismus als auch die modernen Naturwissenschaften und ihre technischen Anwendungen haben seit dieser Zeit einen Siegeslauf um die Welt angetreten.
In ihrem Zusammenwirken haben sie einem Teil der Weltbevölkerung nie dagewesenen materiellen Reichtum beschert. Doch zugleich befinden wir uns heute in einer ebenso beispiellosen globalen Krise: durch Klimachaos, ein rasantes Artensterben, die Plünderung von Böden, Wäldern und Gewässern und nicht zuletzt durch Atomwaffen. Keine Zivilisation in der Geschichte der Menschheit hat je ein solches planetares Zerstörungspotenzial entfaltet.
Obwohl immer wieder gesagt wird, dass wir in einer Wissens- oder gar Wissenschaftsgesellschaft leben, zeigt sich diese Zivilisation seltsam unfähig, adäquate Antworten auf diese epochalen Krisen zu finden. Klimawissenschaftlerinnen, Atomphysiker und Biologinnen, die seit Jahrzehnten auf einen Kurswechsel drängen, finden bei den politischen und ökonomischen Steuerleuten der Großen Maschine kaum Gehör. Ernsthafte Programme für einen grundlegenden und raschen Umbau der Gesellschaft sind nicht in Sicht.
Stattdessen sehen wir Lippenbekenntnisse, Ablenkungsmanöver und bestenfalls einige lächerlich unzureichende kosmetische Reparaturen, während die Zerstörung der Biosphäre nicht nur ungebremst, sondern beschleunigt voranschreitet. Wissenschaft scheint nur so lange willkommen zu sein, wie sie Technologien bereitstellt, die der Geld- und Machtakkumulation dienen; sobald sie aber unbequeme Wahrheiten liefert, die Sand ins Getriebe streuen könnten, werden ihre Erkenntnisse ignoriert. Obwohl unser Leben immer mehr von Technik und Wissenschaft geprägt wird, erweist sich unsere Gesellschaft ausgerechnet, wenn es um unser Überleben geht, als strukturell irrational.
Die Ideologie des Getrenntseins
Der Hauptgrund für die Krise des Lebens auf der Erde ist die Ausbreitung eines Wirtschaftssystems, das ohne permanente Expansion, ohne endloses Wachstum nicht existieren kann. 400 Jahre nach der Gründung der ersten Aktiengesellschaft wird der Planet heute von einigen Hundert bürokratischen Monstern beherrscht und ausgebeutet, deren einziger Zweck die endlose Vermehrung von Geld ist. Koste es, was es wolle.
Die Macht dieses Systems gründet aber nicht nur in seinen wirtschaftlichen und politischen Strukturen, sondern auch in einer Ideologie, die dazu dient, diese Verhältnisse zu rechtfertigen und als Inbegriff der Natur erscheinen zu lassen. Und hier kommt die technokratische Mythologie ins Spiel. Obwohl die moderne Physik tatsächlich das mechanistische Weltbild längst überwunden hat, ist im Schulunterricht noch immer von kugelförmigen Elektronen die Rede, die um einen festen Atomkern kreisen - als habe es die quantentheoretische Revolution niemals gegeben. Nicht nur in Schul- und Lehrbüchern, sondern auch in zahllosen populärwissenschaftlichen Schriften und Filmen wird weiterhin der Eindruck vermittelt, die Welt bestehe in ihren tiefsten Schichten aus isolierten Objekten.
Doch genau diese Sichtweise hat sich bereits vor 100 Jahren als fundamental falsch erwiesen. Wie es der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr, ein langjähriger Mitarbeiter von Werner Heisenberg, formulierte: "Wir haben festgestellt, dass die kleinsten Teilchen überhaupt nicht mehr die Eigenschaft von Materie haben, sondern dass die Materie verschwindet. Was bleibt, sind nur Beziehungsstrukturen." Solche Einsichten haben allerdings bisher kaum Eingang in die populäre Vermittlung von Wissenschaft und ins allgemeine Bewusstsein gefunden.
Der Grund dafür ist offensichtlich: Die Ideologie des Getrenntseins, die behauptet, die Welt gleiche einem Baukasten, ist zu fundamental für unsere Wirtschaftsweise, als dass man sie einfach aufgeben könnte. Denn unser Wirtschaftssystem braucht genau diese Art von Welt, nämlich überall frei verfügbare und kombinierbare Ressourcen, die man ohne Rücksicht auf ihre Einbettung in ökologische Zusammenhänge herausreißen und anderswo verwerten kann. Es braucht außerdem atomisierte Menschen, die ebenfalls frei kombinierbar und einsetzbar sind und möglichst wenige soziale und kulturelle Beziehungen unterhalten, die ihre Verwertbarkeit beeinträchtigen könnten.
Daher ist es sehr nützlich zu behaupten, der Mensch sei von Natur aus ein verlassenes, beziehungsloses Geschöpf in einer seelenlosen, kalten Welt. Damit lassen sich nämlich die konkreten gesellschaftlichen Vorgänge verschleiern, die zu dieser Situation geführt haben. Der Triumphzug der modernen Megamaschine hat gewachsene soziale Beziehungen und Kulturen über Jahrhunderte zerstört, sowohl in Europa als auch in der kolonisierten Welt. Die "totale Verlassenheit" Monods ist, wie wir in Kapitel 4 sehen werden, das Ergebnis dieses gewaltsamen, traumatisierenden Prozesses, nicht Teil einer unabänderlichen conditio humana.
In meinem Buch soll der dunkle Schleier, den die technokratische Ideologie über die Welt und das menschliche Dasein geworfen hat, gelüftet werden, und zwar mithilfe der Wissenschaften selbst. Was darunter zum Vorschein kommt, ist keineswegs eine trostlose Weltmaschine aus toten, isolierten Einzelteilen, sondern ein Kosmos voller Lebendigkeit und Verbundenheit.
Mit jedem Atemzug sind wir mit unserer menschlichen, tierischen, pflanzlichen und mikrobiellen Mitwelt und sogar dem gesamten Universum existenziell verknüpft. Diese Verbundenheit und die damit einhergehende Verantwortung wiederzuentdecken, ist ein wesentlicher Teil des tiefen gesellschaftlichen Wandels, den wir brauchen, um der fortschreitenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zu entgehen.