Der Tod, ein Nischenprodukt

Seite 3: Das Krematorium ist tot, es lebe das Krematorium

Berliner Krematorien bieten vier verschiedene Baustile zum Vergleich. Wedding: Prototypisch als Verschmelzung verschiedener Stile bis zu Art déco (innen); Wilmersdorf: Neoklassizismus; Ruhleben: Nachkriegsmoderne und schließlich in Treptow (Baumschulenweg) ein Unikat, das am tiefsten in der Geschichte schürft und am weitesten in die Zukunft weist. Kurioserweise setzte dieser Neubau von1996/99 die Existenz des Weddinger Krematoriums (1909/1912) aufs Spiel.

Das Treptower Krematorium hat schon Kultstatus. Die Ähnlichkeit mit dem Bundeskanzleramt ist nicht zufällig. Die Architekten, Axel Schultes und Charlotte Frank, sind dieselben. Ihr Sakralbau suggeriert "Gefühl und Härte einer maghrebinischen Moschee." Die Raumordnung ist an altägyptischer Tempelarchitektur orientiert. In der imposanten Trauerhalle, von den Architekten als Versammlungsraum der Kulturen und Weltanschauungen interpretiert, streben in loser Formation 29 zehn Meter hohe Rundsäulen auf, die, ohne das Dach zu tragen, bis zu Öffnungen emporragen, durch die Licht einfällt.

Die Decke wird zum Sternenhimmel. Zu erwägen wäre, ob der Bau mit Symbolik und Anspielungen nicht ein wenig überfrachtet ist. Die räumliche Trennung von Trauerfeier oben und Kremation im Untergeschoss wird auch hier beibehalten.

Dass das Weddinger Krematorium mit einem riesigen Aufwand einschließlich einer perfektionistischen unterirdischen Parentationshalle ausgebaut worden war, hinderte die Politik nicht, das Prestigeobjekt in Treptow zu befördern. Das wurde 1999 eröffnet. Die Folgen waren Überkapazitäten und Querelen der "politisch Verantwortlichen". 2002 traf die Schließung das Weddinger Krematorium. Eine nagelneue Ofenanlage war gerade 16 Monate in Betrieb gewesen.

Das baupolitische Desaster bot die Chance zur Umnutzung, was im Unterschied zu Friedhöfen bei Krematorien ein seltener Fall ist. 2013 ging das Haus per Ausschreibung an "silent green Kulturquartier". Mitten im einst "roten Wedding", der heute ein Schmelztiegel aus Zugewanderten und Einheimischen ist, bietet "silent green" seit 2015 ein interdisziplinäres Kulturprogramm. Die Genres reichen von Performance über Bewegtbild bis zu Bildender Kunst.

Hildur Gudnadottir (TV-Serie "Chernobyl") trat in der Leichenhalle auf. Musikalisch ist alles vertreten von Pop bis Klassik und Singer-Songwriter. Das Jazzfest Berlin hat im Haus einen Standort, die Berlinale ebenfalls. Kooperationspartner ähnlicher Sparten haben in den Räumlichkeiten des Krematoriums ihr ständiges Domizil aufgeschlagen, so das Arsenal-Institut für Film- und Videokunst, die transmediale und das !K7 Label.

Die Umnutzung ist eine Gratwanderung. Jörg Heitmann, der mit seiner Partnerin Bettina Ellerkamp "silent green" aufgebaut hat, betont, dass jede Trivialisierung des Todes vermieden wird. Satanisten müssen draußen bleiben. Ein Party-Gehabe der Art, sich mit der Hand am Sektglas festzukrallen und den Ellenbogen auf eine Urne abzustützen, würde dem Genius loci auch nicht gerecht.

Sämtliche Urnen und Aschekapseln sind entfernt. Spuren der alten Funktion waren freizulegen und zu sichern, und zugleich ist das Haus an die Gegenwart heranzuholen. Das geschah etwa bei den freigeräumten Urnennischen, die an den Galerien umlaufen. Die oktogonale Kuppelhalle bekommt auf diese Weise den strengen Charme zurück, der sich auf den Zeichnungen der französischen Revolutionsarchitektur findet.

Ein Hauch von Piranesi ist dabei. Durch die Beseitigung der Insignien des Todes ist die Architektur abstrakt geworden und passt sich verschiedenen Nutzungen an. Die Aura überträgt sich auf Künstler und Publikum und deren Interaktion. Das Rund macht die Atmosphäre intim. Das Kunsterlebnis ist tiefer, sagt Heitmann.

Allerdings scheint die Denkmalpflege sehr kooperativ gewesen zu sein. Beim Umbau wurden auch einzelne Skulpturen (wie ein Marmorjüngling) sowie Grabplatten für Einzelgräber und Familiengrabanlagen entfernt. Diese und weitere in einem Fundus vorhandene Erinnerungsstücke hätten gut und gerne in einer musealen Ecke oder auf einem kleinen Geschichtspfad ausgestellt werden können.

Unter bröselnden Krusten kam bei der Sanierung ein Terrazzoboden mit geometrischen Figuren zum Vorschein, der Feierlichkeit durch Proportionalität ausstrahlt. Eingearbeitet sind kleinere Felder, die aus Zeichen zusammengesetzt sind, die kabbalistisch, freimaurerisch anmuten.

Die Grundform dieser Geometrien ist das Dreieck, das mehrfach auftaucht, sogar an den Dächern. Es symbolisiert die Flamme und die aufklärende Wissenschaft. Kein Wunder, denn das Krematorium wurde von Freidenkern initiiert. Sie hatten es eilig. Das Haupthaus, die Urnenhalle, wurde 1910 eröffnet, ein Jahr bevor das preußische Verbot der Feuerbestattung fiel.

Einen Kontrast zur alten Kuppelhalle stellt die voluminöse unterirdische Leichenhalle dar, die von 1996 bis 2002 in Betrieb war. In ihr wurden die Särge vollautomatisch und EDV-gesteuert über einen längeren Parcours bewegt. Ein Intranet der Toten. Eine der Zwischenstationen war die Sargschmuckentfernung. Die Leichenhalle ist heute semantisch zu "Betonhalle" mutiert und kann als Kunsthalle fungieren oder bis zu 1.000 Personen bei Veranstaltungen aufnehmen.

Ein letzter Blick fällt auf den Eingang, über welchem eine Frauenfigur mit einem Gefäß in der Hand thront. Die Kunsthistorikerin Jutta von Zitzewitz5 bietet allein vier alternative Deutungen an zwischen byzantinischer Madonna, Maria Magdalena, der griechischen Göttin Hekate oder einer römischen Vestalin. Zitzewitz tippt schließlich auf eine Tempeldienerin, die ein Zeremonialgefäß für Weihrauch hält. Sollten wir die Identität nicht besser offen lassen? Das Geheimnis lüftet die steinerne Frau erst nach unserem Tod.