Der Traum vom besseren Leben: Biffo, die fliegende Minirocknonne und ein Schiff aus der Karibik

Seite 5: Wer gehört zum Vaterland?

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Als toxisch erwies sich Abschnitt 3, Paragraph 8 des 1971 von der Regierung Heath verabschiedeten Einwanderungsgesetzes. Wenn unklar ist, ob eine Person "zum Vaterland gehörig" (patrial) ist, heißt es da, obliegt es dieser Person, den Nachweis dafür zu erbringen. In einem Land ohne Personalausweis- und Meldepflicht kann das Jahrzehnte nach der Einreise extrem schwierig werden. Eine Entscheidung des Innenministeriums vom Oktober 2010, Tausende von Landekarten aus den 1950ern und 1960ern zu vernichten, machte es nicht einfacher.

Warnungen, dass die Landekarten als wichtige (und oft einzige) Datengrundlage genutzt wurden, wenn Probleme mit dem rechtlichen Status von aus der Karibik zugewanderten Bürgern zu klären waren, hatte das auch da schon von Theresa May geführte Ministerium in den Wind geschlagen. Der Guardian deckte in einer Reihe von Artikeln auf, welche dramatischen Konsequenzen die "Hostile Environment"-Politik für die Kinder der bei der Olympiade gefeierten Windrush-Generation hatte, wenn sie keine Quittungen mehr beibringen konnten, die belegt hätten, dass sie seit Jahrzehnten im Vereinigten Königreich lebten.

Britische Staatsbürger verloren Arbeitsplatz und Rentenansprüche, wurden bei Krankheit gar nicht oder - gegen hohe Honorare - als "Medizintouristen" behandelt sowie im schlimmsten Fall in Abschiebezentren gesteckt und zurück in eine "Heimat" gebracht, in der sie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gewesen waren. Als der Windrush-Skandal nicht mehr zu vertuschen war drückte Theresa May ihr Bedauern darüber aus, dass sie die sozialen Folgen ihrer Maßnahmen zur Bekämpfung von Flüchtlingen und sonstigen Ausländern (schwarze Inländer inklusive) nicht bedacht habe.

Einen Rücktritt lehnte May ab, weil sie - inzwischen zur Premierministerin und Brexit-Lieferantin aufgestiegen - dem Vaterland weiter dienen wollte. Zurücktreten musste schließlich ihre Nachfolgerin im Innenministerium. Amber Rudd geriet durch bohrende Fragen des Abgeordneten David Lammy unter Druck und sagte verräterische Sätze wie den, dass sie den Windrush-Einwanderern dabei helfen wolle, die britische Staatsbürgerschaft zu "erwerben" (etwas, das sie immer besessen hatten, bis es ihnen weggenommen worden war).

Rudd trat zurück, als sie den Verdacht nicht ausräumen konnte, das Parlament belogen zu haben. Sie versicherte, nichts von zahlenmäßigen Vorgaben für die von der Regierung angestrebten Abschiebungen zu wissen. Dann wurde ein Memo durchgestochen, aus dem hervorging, dass es solche Vorgaben sehr wohl gab (und das Rudd "nie gesehen" hatte): 12.800 zwangsweise Abschiebungen ("enforced returns") für 2017/18. Allem Anschein nach war das Erreichen dieser Zahl wichtiger als die Frage, ob die "Rückgeführten" britische Staatsbürger waren und wie rechtmäßig die Abschiebungen waren.

Genaue Opferzahlen gibt es nicht. Auf Fakten gestützte Schätzungen legen nahe, dass es zwischen 55.000 und 60.000 aus dem Commonwealth eingewanderte Menschen sind, die als Illegale behandelt wurden, obwohl sie sich legal in dem Land aufhielten, das sie mit aufgebaut hatten und dessen Staatsbürger sie waren. Nicht alle stammen aus der Karibik. Es sind auch Weiße aus Zypern oder Kanada darunter. Beim derzeitigen Wissensstand ist das eine ganz kleine Minderheit. Die überwiegende Mehrzahl der Betroffenen hat eine dunkle Hautfarbe (davon rund 15.000 aus Jamaika).

Hungersnot und Titanen-Politik

Hinter dem die "Hostile Environment"-Politik umgebenden Wust von Gesetzesparaphen und Verordnungen kommt die hässliche Fratze des Rassismus zum Vorschein. In The Long Good Friday hat er das Gesicht von Harold Shand, dem Gangster und Thatcheristen. Die 1970er, als der Film entstand, waren die Hochzeit der National Front, einer rechtsextremen Partei, die mit lautstarken Demonstrationen Schlagzeilen machte und durch South East London zog, Harolds engere Heimat, um die um ihre Jobs bangenden Arbeiter gegen Einwanderer aufzuwiegeln. In Deptford, wo einst Drakes Weltumsegelung gefeiert worden und die Golden Hinde verrottet war, stimmte fast jeder zweite Wähler für diese Partei.

Viele Parteimitglieder waren vorher bei den Konservativen gewesen und Anhänger von Enoch Powell. Margaret Thatcher hatte es immer für einen Fehler gehalten, Powell aus dem Schattenkabinett zu werfen. Nach ihrem Wahlsieg im Mai 1979 grub sie der National Front durch eine restriktive Einwanderungspolitik, hartes Vorgehen gegen Illegale und permanentes Jammern über die EU (deren wirtschaftliche Vorteile sie durchaus zu schätzen wusste) das Wasser ab. Leute, die in den 1970ern ausgetreten waren, kehrten zu den Konservativen zurück.

Für Thatchers durchaus erfolgreiche Strategie, die National Front zu spalten und deren weniger radikale Mitglieder zurückzuholen, indem sie einen Teil ihrer Forderungen in die eigene Politik (oder wenigstens Rhetorik) überführte, zahlten die Konservativen langfristig einen hohen Preis. EU-kritisch zu sein ist nicht verwerflich, durch ihre Demokratiedefizite bietet die Europäische Union reichlich Anlass dazu. Aber bei der Farce rund um Theresa May und ihren Deal konnte man studieren, was dabei herauskommt, wenn eine relativ kleine Gruppe hartleibiger EU-Gegner als Partei in der Partei agiert.

Die jetzt in der "European Research Group" (ERG) organisierten Europaskeptiker treiben konservative Regierungen vor sich her (recherchiert wird, warum die EU-Mitgliedschaft des Teufels ist). An ihnen sind drei Premierminister gescheitert; vor Theresa May waren das David Cameron und John Major, der Nachfolger von Margaret Thatcher. Thatcher selbst läutete ihr politisches Ende ein, als sie sich durch ihren Widerstand gegen die deutsche Wiedervereinigung (sie befürchtete die Wiederkehr des Dritten Reichs) und ihr "No, no, no!" zur europäischen Integration im eigenen - europafreundlichen - Kabinett isolierte.

Jacob Rees-Mogg. Bild: Chris McAndrew / CC-BY-3.0

Als Boris Johnson Premierminister wurde durfte Jacob Rees-Mogg, bis dahin Chef der ERG, als Parlamentsminister in der ersten Reihe der Regierungsbänke Platz nehmen. Wie Johnson letztlich damit fährt, dass er mit den Hardcore-Brexiteers paktiert, wird sich noch weisen. Rees-Mogg war der erste, der Theresa May mit Sir Robert Peel verglich, als sie den "Backstop" vorstellte, also die Klausel im Austrittsvertrag, der zufolge das Vereinigte Königreich in einer Zollunion mit der EU bleiben sollte, solange es kein Abkommen gibt, das Zollkontrollen zwischen der Republik Irland und Nordirland überflüssig macht.

Robert Peel? Als Premierminister stand Peel im Zentrum harter Auseinandersetzungen um Freihandel und Protektionismus, die Großbritannien in den 1840ern erschütterten. Zankapfel waren die nach den Napoleonischen Kriegen erlassenen Getreidegesetze, die den Landadel (eine für die Konservativen sehr wichtige Wählergruppe) und seine wirtschaftlichen Interessen schützen sollten. Wenn der Preis für heimisches Getreide unter ein bestimmtes Niveau fiel stiegen automatisch die Zölle auf Importe. In der Praxis bedeutete das eine Preisgarantie für die Produzenten, zulasten der Konsumenten (Brotesser).

Robert Peel

Peel gehörte zu den Modernisierern innerhalb der Konservativen Partei, die solche Schutzzölle abschaffen wollten, gegen starke Widerstände der Hinterbänkler. 1845/46 vernichteten Kartoffelfäule und schlechtes Wetter den größten Teil der irischen Kartoffelernte. Kartoffeln waren das Hauptnahrungsmittel der Iren, die von den englischen Kolonialherren nicht etwa unterstützt, sondern gnadenlos ausgebeutet wurden, weil auch bei ihnen die Ernte sehr schlecht ausgefallen war. Eine Million Iren starben am Hunger und seinen Folgen (ein Neuntel der Bevölkerung), zwei Millionen wanderten aus, die meisten in die USA.

Peel nützte die Hungersnot zur Abschaffung der Getreidegesetze und verkaufte sie als humanitäre Maßnahme. Den Ärmsten half das nichts, weil die Zölle über einen Zeitraum von drei Jahren abgebaut wurden und Brot auch nach den Preissenkungen unerschwinglich für sie blieb. 1848 hielt Karl Marx in Brüssel eine Rede, in der er die wahren Profiteure benannte: die Fabrikbesitzer. Eine wesentliche Rolle bei der Festsetzung der Löhne spielten die Lebenshaltungskosten. Niedrigere Brotpreise ermöglichten es den Arbeitgebern, die Löhne zu drücken. Das steigerte die Gewinne.

Aus Peels Sicht hatten die Torys zu sehr eine Politik für Grundbesitzer und den Landadel gemacht. Mit der Abschaffung der Getreidegesetze wollte er das besser austarieren, zugunsten der Industriellen als neuer Machtbasis seiner Partei, die er damit aber spaltete. Peel wurde zum Rücktritt gezwungen. Seine Anhänger liefen zu den Whigs über und es entstand eine neue Freihandelspartei, die Liberal Party. Die Konservativen übernahmen stillschweigend Peels Positionen, mussten allerdings 28 Jahre warten, bis sie zurück an die Macht kamen, mit einer Minderheitsregierung.

Auf diese Spaltung und den daraus resultierenden Machtverlust spielte Rees-Mogg an, als er Theresa May mit Peel verglich. Als Kompliment war das nicht gemeint, weder für May noch für ihren 1848 zurückgetretenen Vorgänger. Bald danach tauchte Robert Peel in Rees-Moggs Werk The Victorians wieder auf, als zum Marktradikalismus bekehrter Ex-Protektionist und einer von elf Titanen (und einer Titanin, der Königin) des Viktorianischen Zeitalters, die Britannien einst groß machten.

Bis zur Auflösung des Parlaments saß Rees-Mogg wie der personifizierte Brexit-Schatten hinter Johnson, wenn der Premierminister seine vorgezogenen Wahlkampfreden hielt, in denen er Milliarden für das Gesundheitswesen, die Polizei, die Bildung und die Infrastruktur versprach (alles Bereiche, die von seiner Partei vorher ausgeblutet wurden), sowie eine Erhöhung des Mindestlohns. Wähler sollten öfter die Bücher der Politiker lesen, die um ihre Stimme buhlen. Das bewahrt vor bösen Überraschungen. Rees-Moggs viktorianische Titanen sind da sehr instruktiv.

Was braucht ein Selfmademan?

Robert Peel, Mitbegründer der Konservativen Partei und Erfinder des modernen Wahlprogramms, war der erste Spross einer Industriellenfamilie, der britischer Premierminister wurde (der erste konservative Politiker, der es aus einfachen Verhältnissen auf diesen Posten schaffte, war 1970 Edward Heath). Peel war der Sohn eines steinreichen Baumwollfabrikanten. Er besuchte das Eliteinternat Harrow, studierte in Oxford und startete seine politische Karriere als Abgeordneter eines von seiner Familie kontrollierten rotten borough in Irland.

Als "verrottet" bezeichneten Reformer jene Bezirke (bis zu einer Neuregelung im Jahr 1832 mehr als 140 von insgesamt 658), die im Unterhaus stark überrepräsentiert waren, weil es seit einer Ewigkeit keine Anpassung der Wahlkreise an die Bevölkerungsentwicklung mehr gegeben hatte. Die rotten boroughs hatten sehr wenige Wahlberechtigte, oft unter 50, die man wegen der geringen Zahl leicht kaufen oder einschüchtern konnte (die Wahl war öffentlich). In Peels Wahlkreis in der Grafschaft Tipperary waren es 24, die auf Geheiß seines Vaters alle für ihn stimmten.

Sir Robert, schreibt der Historiker Rees-Mogg, war ein echter self-made man. Harold Shand ist demnach keiner. "Der Junge aus Stepney" (einer der ärmsten Londoner Stadtteile) musste ohne Geld und Kontakte einer privilegierten Familie einen Bandenkrieg gewinnen, um nach oben zu kommen. Mit Jacob Rees-Mogg teilt der Gangster die Begeisterung für große Taten in einer ebenso großen englischen Vergangenheit. Sein Schöpfer Barrie Keeffe, der Drehbuchautor von The Long Good Friday, sieht die Dinge aus einer anderen Perspektive.

Statt wie Harold englische Heldentaten in Dünkirchen zu rühmen, sagt er, halte er sich lieber an die "fabelhafte ethnische Mischung" im East End, das Fremden und Außenseitern stets eine Zuflucht geboten habe, von den Hugenotten über aus Russland geflohenen Juden bis zu Einwanderern aus Bangladesch. Die Vitalität, die das Viertel daraus zog, habe ihm seinen Optimismus erhalten, als die National Front aufmarschierte. Keeffe stand unter dem Eindruck dieser Märsche (und als gut informierter Mensch auch unter dem von Margaret Thatchers Wahlprogramm), als er Shand nach Brixton fahren ließ.

Black Joy

Phil Méheux übrigens war Kameramann bei Black Joy (1977), Anthony Simmons’ Verfilmung eines Theaterstücks des aus Guayana stammenden Jamal Ali. In Episoden wird die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der nach London kommt und in Brixton lernt, sich in einer schwierigen Umgebung durchzuschlagen, indem er sich dem Milieu kleiner Gauner anpasst, in das er da gerät. Beschwingt, angenehm unsentimental sowie ohne wohlfeile Moralisierungen und darum, trotz einiger Klischees und des mitunter aufkommenden Gefühls, dass dem weißen Mann ein Blick ins schwarze Ghetto gewährt wird, unbedingt sehenswert. Es müssen nicht immer Francis Drake und die Piraten sein.

Auch The Long Good Friday, für den Méheux ebenfalls die Bilder lieferte, macht einen großen Bogen um eine billig zu habende Moral. Der Film verzichtet auf simple Schwarz-Weiß-Muster und tut nie so, als seien alle Probleme gelöst, wenn man die Rollen verteilt und bestimmt hat, welche von den Charakteren die Guten sind und welche die Bösen. Harold Shand ist ein Monster, aber irgendwie sympathisch ist er auch. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er in einer für einen Gangsterfilm durchaus ungewöhnlichen Paarbeziehung lebt. Hier muss nun endlich Helen Mirren zu ihrem Recht kommen.

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