"Der Vatikan ist noch heute das Fort Knox des Patriarchats"
Evolutionsbiologe Carel van Schaik und Historiker Kai Michel über die Geschichte der Legitimation der Ungleichheit zwischen Frauen und Männern (Teil 2)
Mit ihrem Buch Die Wahrheit über Eva leisten Carel van Schaik und Kai Michel einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Geschlechterrollen. Liegt die Benachteiligung der Frau in der Biologie oder in der Kultur begründet? Telepolis sprach mit den Autoren (Teil 1 des Gesprächs: Geschlechterrollen: Alles ist fließend).
Im Nachvollzug dessen, was die Geschlechterverhältnisse ins Ungleichgewicht brachte, rekurrieren Sie auf die Bibel. Warum?
Carel van Schaik und Kai Michel: In unserem letzten hatten wir die Bibel als ein "Tagebuch der Menschheit" gelesen. Wir interpretierten sie über weite Strecken als Krisenbewältigungsversuche der Menschen, sich mit den neuen Herausforderungen auseinanderzusetzen, die sie plagten, seitdem sie sesshaft lebten und Landwirtschaft betrieben: also Seuchen, Hungersnöte, Kriege, wachsende Armut der einfachen Menschen und Ungerechtigkeit.
Die entfalteten ihre volle Wirkmacht erst über die Jahrtausende hinweg. Bereits bei dieser Lektüre hatte uns der Widerspruch beschäftigt, dass in der Bibel zahlreiche starke Frauen auftraten, die Genesis andererseits gleich auf den ersten Seiten eine Begründung lieferte, warum Frauen den Männern untertan sein sollten.
Als wir bei Veranstaltungen oft gefragt wurden, wie sich während der Evolution eigentlich die Geschlechterverhältnisse darstellten, und wir realisierten, dass es da eine Leerstelle im öffentlichen Diskurs gab, beschlossen wir, der Sache nachzugehen. Wir erwählten uns Eva als Führerin.
Schließlich nennt schon Adam sie "Mutter alles Lebendigen"; sie ist deshalb für uns eine passende Verkörperung der Evolution, auch wenn es bei dieser keine Ur-Eva gibt, sondern eben nur die "Evalution", die schier endlose Abfolge von Evas.
Aber noch wichtiger: Die Bibel ist nun mal fast 2000 Jahre lang das mächtigste Buch gewesen, nichts hat die Kultur des sogenannten "christlichen Abendlands" so tief und so nachhaltig geprägt wie das angebliche Wort Gottes. Die Geschichte von Eva avancierte in der christlichen Welt zur Meistererzählung der Misogynie. Und der Vatikan ist noch heute das Fort Knox des Patriarchats.
"Eine religiöse Enteignung der Menschen gewesen, welche die Frauen besonders hart traf"
Wie ist denn ein geschichtlicher und sozialer Zusammenhang zwischen Monotheismus, patriarchalen Strukturen und Verteufelung der weiblichen Sexualität nachzuweisen und wie spielen diese Faktoren zusammen?
Carel van Schaik und Kai Michel: Haben Sie gesehen, wie viele Seiten wir in unserem Buch brauchten, um das zu erklären? Versuchen wir es in aller Kürze: Das Patriarchat ist keine Erfindung des Monotheismus, es ist viel älter. Wir finden es mehr oder minder überall, wo man zur intensiven Landwirtschaft überging. Auch war das alte Israel sicher nicht patriarchaler als die anderen antiken Gesellschaften.
Aber der Monotheismus verleiht ihm den göttlichen Segen. Denn wo ein einziger Gott die Welt eingerichtet hat, muss ja auch das Patriarchat göttlich gewollt sein. Dahinter steckt ein bis heute zu beobachtendes Phänomen: Man ist kulturblind! Man verkennt die geschichtliche Gewordenheit der Verhältnisse. Wenn die Welt patriarchal ist, muss Gott das so intendiert haben - das ist die Antwort der Bibel.
Bemerkenswerterweise unterlief in der griechischen Welt den frühen Wissenschaftler und Philosophen ein ähnlicher Attributionsfehler, der ebenfalls zum victim blaming führte: Sie missdeuteten die noch stärkere patriarchale Verfasstheit der griechischen Gesellschaften als natürliche Ordnung der Dinge und begründeten das damit, dass Frauen von Natur aus mangelhafte Männer seien. Die Bibelautoren bastelten sich dann aus altem Material die Geschichte zusammen, dass die Frauen selbst schuld an ihrer Unterdrückung tragen, weil ihre Urmutter Eva gegen das göttliche Gebot verstoßen habe.
Ein zweiter Punkt kommt hinzu: Fatal wirkte sich aus, dass der neue Monotheismus jener Sphäre angehört, die wir als Herrschaftsreligion beschreiben, also jener Religion von oben, die zuallererst dazu dient, Herrschern Legitimation zu spenden. Das neue am Monotheismus ist, dass er versucht, die traditionellen Glaubenswelten, all die anderen Gottheiten, Geister und die mannigfaltigen Praktiken der Alltagsreligion, zu verbieten.
Das ist eine religiöse Enteignung der Menschen gewesen, welche die Frauen besonders hart traf, weil Jahwe, der als ehemaliger Sturm- und Kriegsgott zum Staatsgott geworden war, in Bereichen wie Heilung oder Schwangerschaft erhebliche Defizite besaß.
Aber wirklich misogyn wurde das alles erst, als diese Ideen in eine völlig andere Lebenswelt - die griechisch-römische Welt - wechselten, dort mit der ebenfalls frauenherabsetzenden Philosophie und Wissenschaft verschmolzen und schließlich sogar zur Herrschaftsreligion des Römischen Reichs wurden.
Fortan behaupteten alle Sinnsysteme - Religion, Philosophie und Wissenschaften -, dass Frauen das zweite Geschlecht seien, und Gesetze zementierten das. Damit war die Patrix komplett - und ein für über anderthalb Jahrtausende schier unüberwindliches System etabliert, in dem Frauen unterdrückt, ausgebeutet und zu Opfern schlimmster Gewalt wurden. Dass auch viele andere darunter litten, ist völlig klar, Stichwort Despotie. Aber die Frauen traf es systematisch und mit größter Härte. Der Frauenhass wurde systemerhaltend.
"Jede sexuelle Regung war ein Wirken des Bösen und musste bekämpft werden"
Übertreiben Sie da nicht? Und was hat das mit der Verteufelung der weiblichen Sexualität zu tun?
Carel van Schaik und Kai Michel: Nein, wir glauben nicht. Aber das ist der Punkt. Alle patriarchalen Gesellschaften versuchen die weibliche Sexualität unter Kontrolle zu bringen. In manchen geschieht das noch rabiater als in der christlichen Welt. Hier aber spielt das eine zentrale Rolle.
Warum sich ein Gott überhaupt für Sexualität interessiert, haben wir in unserem letzten Buch erklärt. Die Verteufelung der weiblichen Sexualität ist aber nun ein sehr christliches Phänomen, das im apokalyptischen und das heißt hier vor allen dämonologischen Denken wurzelt und mit dem augustinischen Phantasma der Erbsünde, die durch den Geschlechtsverkehr übertragen wird, verschmilzt.
Einfach gesagt, wird die nicht unter Kontrolle zu bringende Sexualität damit zum Bösen im eigenen Körper, zur Versuchung teuflischer Mächte erklärt. Und das, was die sexuelle Erregung auslöst - wir haben es hier mit einer reinen Männersicht zu tun -, die Frauen also vor allem, gilt damit als Werkzeug des Teufels.
Mittels Eva habe der Teufel Adam zum Bösen verführt und damit die ganze Menschheit ins Unglück gestoßen - das ist für lange Zeit der zentrale Herrschaftsmythos des Christentums gewesen und die Legitimation für Männer, Frauen zu kontrollieren und zu unterdrücken. Aber mehr noch: Jede sexuelle Regung war damit eine Versuchung, ein Wirken des Bösen und musste bekämpft werden. Ganz natürliche menschliche Bedürfnisse wurden also verteufelt.
Das Erleben sexueller Erregung wird damit zum negativen Gottesbeweis: Denn jeder Mensch spürt so das gewaltige Wirken des Teufels in sich. Und wo es einen Teufel gibt, muss es auch einen Gott geben. Das meinen wir mit systemerhaltend: Da es an allgemein erfahrbaren positiven Gottesbeweisen fehlt, wird die zur Sündhaftigkeit erklärte menschliche Sexualität zur unverzichtbaren Säule des Glaubens.
"Das Patriarchat ist weder eine christliche oder gar biblische Erfindung noch ein christliches Alleinstellungsmerkmal"
Aber all das ist eine sehr christliche Sicht. In puncto Bevormundung von Frauen, bzw. Frauenfeindschaft stehen andere Religionen dem Christentum wohl kaum nach.
Carel van Schaik und Kai Michel: Da haben Sie recht. Uns ging es jedoch darum, unsere Hausaufgaben zu machen und zu verstehen, was unsere eigene Kultur so massiv patriarchal kontaminierte und mit welchen kulturellen Altlasten wir hier zu kämpfen haben. Denn aus dem Christentum hat sich unsere ganze kulturelle Vielfalt, die Wissenschaften inklusive, entwickelt. Viele der Narrative setzten sich im säkularen Gewand fort. Im 19. Jahrhundert etwa tauscht die Patrix ihre religiösen Stützen gegen wissenschaftliche aus.
Das gelingt so leicht, weil diese eine lange gemeinsame Vergangenheit haben und die Misogynie bestens kultiviert, also tief in die Kultur eingeschrieben war. Die Dämonisierung der Sexualität schreibt sich auch unter wissenschaftlichen Vorzeichen fort. Vieles, was wir beschreiben, ist aber nicht allein dem Christentum vorbehalten.
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Das Patriarchat ist weder eine christliche oder gar biblische Erfindung noch ein christliches Alleinstellungsmerkmal, wohl aber sehen wir es hier in besonders starker Penetranz. Wie kann es denn sein, dass es noch im 21. Jahrhundert Institutionen gibt, die Frauen zu Wesen mit minderen Rechten erklären, andere sexuelle Orientierungen diskriminieren und sich immer noch anmaßen, die menschliche Sexualität zu kontrollieren?
"Ironischerweise ist es gerade das biologische Erbe, das den Feminismus befeuert"
Würden Sie den Hypothesen der Genderforschung zustimmen, wie etwa, dass es eine männliche und eine weibliche Semantik gibt und die Naturwissenschaften und somit auch die Biologie von einer männlichen Sicht geprägt sind?
Carel van Schaik und Kai Michel: Da haben wir nicht wirklich Neues zu sagen. Ja, die Wissenschaften sind Teil der Patrix gewesen wie all unsere anderen Institutionen auch. Und sie sind deshalb zutiefst männlich geprägt. Deshalb war es etwa für den Feminismus der 1970er/80er Jahre noch eine Überlebensnotwendigkeit, sich nach anfänglich starkem Interesse an der Evolution einer sehr patriarchal geprägten Biologie zu verweigern, die weibliche Erfahrungen und Expertise abgewertet, wenn nicht negiert hatte und noch immer patriarchale Phantasmen pflegte.
Doch hier hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm viel getan. Frauen - aber auch viele Männer - haben das Wesen der Wissenschaften von innen heraus massiv verändert. Da steht sicher noch längst nicht alles zum Besten. Wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen haben die Spielregeln und die Bedingungen immer noch eine männliche Schlagseite.
Das wird zu wenig gesehen: Viele sagen, es herrsche doch heute Gleichberechtigung. Aber viele Bereiche unserer Kultur sind noch mal mehr, mal weniger patriarchal kontaminiert. Unser Buch versteht sich deshalb als Versuch, das aktuelle Wissen über die menschliche Evolution und die kulturellen Irrwege zur Verfügung zu stellen, um mitzuhelfen, Restbestände der Patrix zu identifizieren und sie als kulturelle Altlasten zu entsorgen.
Träumen wir nicht alle von einer möglichst fairen Gesellschaft ohne Diskriminierungen? Und da erscheint es uns eine, sorry, frohe Botschaft zu sein, festzustellen: Von unserer psychologischen Grundausstattung haben wir alle kein Problem mit Gleichberechtigung.
Ironischerweise ist es gerade dieses biologische Erbe, das den Feminismus befeuert: Die Wut, die Frauen empfinden über die Ungerechtigkeiten, die sie erleben, das ist ja unsere alte, egalitäre Natur, die sich immer regt, wenn man selbst oder die eigene Gruppe benachteiligt wird.
Wäre alles nur kulturell, gäbe es also keine menschliche Natur, hätten sich Frauen schon längst klaglos ihrem Schicksal gefügt und würden die Paschas dieser Welt anhimmeln. Tun sie aber nicht! Vor der Biologie müssen wir keine Angst haben. Im Gegenteil. Es lebe die Evalution!
Über die Autoren:
Carel van Schaik, geboren 1953 in Rotterdam, ist Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe. Er erforscht die Wurzeln der menschlichen Kultur und Intelligenz bei Menschenaffen. Er war Professor an der Duke University in den USA und von 2004 bis 2018 Professor für biologische Anthropologie an der Universität Zürich, wo er als Direktor dem Anthropologischen Institut und Museum vorstand. Unlängst legte er das Standardwerk "The Primate Origins of Human Nature" vor. Carel van Schaik ist ein korrespondierendes Mitglied der Royal Netherlands Academy of Sciences. Er lebt in Zürich.
Kai Michel, geboren 1967 in Hamburg, ist Historiker und Literaturwissenschaftler. Er hat von "GEO" über Die Zeit bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung für die großen deutschsprachigen Medien geschrieben. Gemeinsam mit Carel van Schaik las er die Bibel aus einer evolutionären Perspektive als "Tagebuch der Menschheit", mit dem Archäologen Harald Meller legte Kai Michel den Bestseller "Die Himmelsscheibe von Nebra" vor. Er lebt als Buchautor in Zürich und im Schwarzwald.