Der Widerstand der Juristen

Seite 2: Menschenwürde an erster Stelle genannt

Sollte man überhaupt eine Hierarchie der Grundrechte aufstellen, so wäre darauf hinzuweisen, dass im Grundgesetz an erster Stelle in Artikel 1 die Menschenwürde erwähnt wird. Erst in Art. 2 Absatz 2 werden Leben, Gesundheit und Freiheit garantiert, zugleich wird aber auch mit einem gesetzlichen Eingriffsvorbehalt die Möglichkeit der Einschränkung gegeben.

Es sollte klar sein, dass wir weder Leben und Gesundheit noch die Freiheit auf Kosten der Menschenwürde schützen. Die Abwägung der Grundrechtspositionen gegeneinander eröffnet den Gerichten im Rahmen ihrer Prüfung der Verhältnismäßigkeit, Geeignetheit und Notwendigkeit der Maßnahmen allerdings einen weiten Entscheidungsraum. In einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, mit dem dieses die Verfassungsbeschwerde eines älteren Mannes wegen unterlassener Vorsorgemaßnahmen ablehnte, hat es den Rang des Rechts auf Leben und Gesundheit in das normale Ermessen der Behörden und nicht über die anderen Grundrechte gestellt:

"Zwar ist das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe, sondern umfasst auch die Pflicht, sich schützend und fördernd vor das Leben der Einzelnen zu stellen ... sowie vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit zu schützen. Doch kommt dem Gesetzgeber auch dann, wenn er dem Grunde nach verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen, ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu (...)

Was konkret zu tun ist, um Grundrechtsschutz zu gewährleisten, hängt von vielen Faktoren ab, im Besonderen von der Eigenart des Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der hier betroffenen Rechtsgüter."

So hat das Bundesverfassungsgericht in einem anderen Fall dem Schutz von Leben und Gesundheit Vorrang vor dem Recht auf persönliche Freiheit gegeben, die durch eine bayerische Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen und eine vorübergehende Ausgangsbeschränkung eingeschränkt wurde. Darin wurde vorgeschrieben, den unmittelbaren körperlichen Kontakt und reale Begegnungen einzuschränken beziehungsweise zu unterlassen, die eigene Wohnung nicht ohne wichtige Gründe zu verlassen und den Betrieb von Begegnungsstätten vorübergehend einzustellen.

In einem anderen Beschluss hat es grundsätzliche Demonstrationsverbote wegen Corona für verfassungswidrig erklärt, was jedoch nicht ausschließt, dass die Verwaltung Demonstrationen nur unter Auflagen wie etwa Masken- und Abstandspflicht zulässt.

Keine durchgängige Entscheidungslinie

Sieht man sich die zahlreichen Urteile deutscher Gerichte zu den Corona-Maßnahmen an, erkennt man keine durchgängige Entscheidungslinie. Selbst wenn das Oberverwaltungsgericht (OVG) Niedersachsen eine generelle Quarantäne für Auslandsrückkehrer für unverhältnismäßig hält und das OVG des Saarlands ein generelles Prostitutionsverbot aufgehoben hat oder das Verbot entgeltlicher Beherbergung vom OVG Niedersachsen ebenso wie vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg beanstandet wurde, der jüngst auch die dortige abendliche und nächtliche Ausgangssperre beendete, sind diese Entscheidungen bundesweit nicht bindend.

Sie können je nach Bundesland und konkreter Fallgestaltung von anderen Gerichten ganz anders entschieden werden. Das mag man als Funktionieren des Rechtsstaats preisen, es nimmt aber den Betroffenen nicht die Angst vor der Unberechenbarkeit behördlicher Maßnahmen und der danach angerufenen Justiz. Der Sinn von Grundrechten ist nicht, dass Gerichte laufend staatliches Handeln korrigieren müssen. Grundrechte sind nicht verhandelbar, sie sind Grundlage und Richtschnur staatlicher Entscheidungen.

Dass zur Zeit eine nie gekannte Vielzahl tiefgreifender Grundrechtseingriffe zur Bewältigung einer Krise zu verzeichnen ist, wird allgemein anerkannt. Dass dies eine ebenfalls beispiellose Welle von Anrufungen der Gerichte auslöst, können wohl nur Zyniker als Beweis für die Lebendigkeit der Demokratie ausgeben.

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