"Der Zerfall der Ukraine ist in vollem Gang"

Peter Scholl-Latour über Putin, die gespaltene Ukraine und die Politik des Westens

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Ramon Schack hat an Peter Scholl-Latours neunzigstem Geburtstag für Telepolis mit dem bekannten Journalisten und Autor gesprochen, der viel unterwegs war und die Konfliktherde der Welt aus eigener Erfahrung vor Ort kennt. Während der erste Teil des Gesprächs vor allem über Scholl-Latours Leben ging (Scholl-Latour: "Wir leben in einer Zeit der Massenverblödung"), hat Ramon Schack mit ihm auch über Russland und die Krimkrise gesprochen. Wie immer hat Scholl-Latour, der Putin auch persönlich begegnet ist, einen eigenen und durch Geschichte und Erfahrung begründeten Standpunkt. Die Telepolis-Redaktion möchte sich bei Peter Scholl-Latour ausdrücklich für das lange Gespräch bedanken. Ramon Schack hatte bereits im August des letzten Jahres mit ihm über das Verhältnis Russland-USA gesprochen, das sich in der Krim-Krise nur weiter zugespitzt hat (Gegenüber Russland wähnt sich der Westen noch immer im Kalten Krieg)

Herr Scholl-Latour, Sie sind Wladimir Putin vor einigen Jahren persönlich begegnet. Was für einen Eindruck haben Sie damals von dem Präsidenten Russlands gewonnen, der in Teilen der westlichen Presse heute ja als Brandstifter bezeichnet wird?
Peter Scholl-Latour: Bei Wladimir Putin handelt es sich natürlich nicht um einen "lupenreinen Demokraten", wie ihn Gerhard Schröder einst lobhudelte. Ich weiß auch nicht, wie George W. Bush zu der Überzeugung kam, es handele sich beim russischen Staatschef um eine "ehrliche Haut". Nein, man merkt dem Mann seine Vergangenheit im Geheimdienst an. Gleichwohl handelt es sich um einen russischen Patrioten, der sehr rational veranlagt ist. Ich wüsste aktuell niemanden, der Russland momentan besser als Staatsoberhaupt führen könnte.
Hillary Clinton verglich Putin kürzlich mit Hitler
Peter Scholl-Latour: Auf so einem Niveau sollte man wirklich nicht argumentieren, ein Armutszeugnis. Aus russischer Sicht wird Putin mit Peter dem Großen verglichen, der ja auch in der westlichen Geschichtsschreibung als großer Reformer gepriesen wird. Dabei wäre Peter der Große, nach heutigen Menschenrechtsmaßstäben, ein blutiger Diktator. Dem Westen wäre es natürlich lieber, die Politik von Boris Jelzin wäre in Moskau weiter geführt wurden, als Russland am Boden lag, die Oligarchen die Macht übernahmen und das russische Volk massiv verarmte. Putins Verdienst ist es, dass er Russland, also den größten Flächenstaat der Welt, wieder aus dem Elend führte, beziehungsweise den Niedergang stoppte.
Wenn auch bisweilen mit brachialen Methoden
Peter Scholl-Latour: Ja, der bei uns so hochverehrte Herr Gorbatschow ließ Demonstrationen und Aufstände blutig niederwalzen, von Georgien bis Litauen, von dem ökonomischen und sozialen Niedergang während seiner Amtszeit ganz zu schweigen.
Wann war denn Russland bitte jemals ein freies und demokratisches Land? Unter dem Zaren, unter Stalin, Breschnew? Nein, gemessen daran geht es Russland heute unter Putin gar nicht schlecht, wahrscheinlich besser als jemals zuvor in seiner langen Geschichte, die ja reich an Tragödien ist. Putin hat immerhin den blutigen Krieg in Tschetschenien beendet, den sein Vorgänger Jelzin begann. Ein Krieg, der zigtausende von Opfern forderte, in den 1990er Jahren, was im Westen weit weniger Empörung auslöste als die Inhaftierung von irgendwelchen jungen Damen, die sich während einer religiösen Zeremonie entkleideten.
Sie halten also Kritik an Menschenrechtsverletzungen in Putins Russland für überflüssig?
Peter Scholl-Latour: Der Westen könnte ja einmal damit beginnen, bei seinen engsten Verbündeten Menschenrechte einzufordern und diese nicht nur selektiv einzuklagen. Saudi-Arabien wird von den USA und der EU mit Waffen geradezu überschüttet, obwohl Homosexuelle dort hingerichtet werden, der Spaßgruppe Pussy Riot wäre dort ein ähnliches Schicksal beschieden.

"Der westlichen Politik ist jegliches historische Gespür abhanden gekommen"

In Ihrem 2006 erschienenem Buch "Russland im Zangengriff" analysieren Sie die drei großen geopolitischen Herausforderungen Moskaus: den militanten Islam, den Aufstieg Chinas sowie die anhaltende NATO-Osterweiterung.
Peter Scholl-Latour: Richtig, ich frage mich wirklich, was die NATO und in ihrem willfährigen Gefolge die EU mit diesem Drang nach Osten bezwecken möchte? Putin wollte ursprünglich doch auch die Öffnung nach Westen. Aber durch die NATO-Osterweiterung, die allen Abkommen nach dem Ende des Kalten Krieges widersprach, die Russland fast auf die Grenzen von Brest-Litowsk wie nach dem 1. Weltkrieg zurückwarf, durch das Zurückstoßen Russlands in den Osten, kam es zu einer Abkehr in der politischen Strategie Moskaus. Kein Wunder, dass Moskau jetzt reagiert.
Der gescheiterte FDP-Politiker Guido Westerwelle ließ es sich ja nicht nehmen, gegen Ende seiner Amtszeit, sich geradezu provokativ unter die protestierenden Massen auf dem Maidan der ukrainischen Hauptstadt zu mischen. Man stelle sich vor, Moskau würde auf ähnliche Weise seine führenden Politiker als Stifter von Unruhe in irgendwelche turbulenten Landschaften Westeuropas entsenden.
Offenbar hat man aus den gescheiterten Revolutionsversuchen, ob sie sich nun Orangen-, Rosen- oder Tulpenrevolutionen nannten, die nicht nur in Kirgistan zu blutigen Unruhen führten, nicht gelernt. Stattdessen wird medial der Eindruck geschürt, als habe sich eine erdrückende Mehrheit der Bevölkerung von Moskau abgewandt.
Was nicht der Fall ist?
Peter Scholl-Latour: Wirklich dem Westen zugehörig erscheint doch vor allem der ehemals österreichische, dann polnische Landesteil Galizien mit der Regionalhauptstadt Lemberg, heute Lviv genannt. Aus der Perspektive der Menschen dort kann man das auch verstehen, denn der stalinistische Terror tobte sich dort besonders grausam aus.
In dieser Region hatte der Partisanenführer Stepan Bandera während des Zweiten Weltkrieges zum Aufstand gegen die deutsche und die sowjetische Besatzung aufgerufen. Die Söhne und Enkel dieser Bewegung sind - was häufig verschwiegen wird - von der lokalen Verwaltung geradezu militärisch organisiert worden und bilden heute den harten Kern der Revolte Kiews, nicht etwa Wladimir Klitschko, der ein ehrenwerter Mann sein mag, von Politik aber nichts versteht.
Die Tatsache, dass führende Politiker des Westens der Swoboda-Partei einen Heiligenschein ausstellten, obwohl die sich nachträglich auf jene ukrainischen Partisanentruppen beruft, die während des Zweiten Weltkrieges brutal gegen Russen, Polen und Juden vorgingen und nur gelegentlich gegen die deutsche Besatzung kämpften, zeigt, dass der westlichen Politik jegliches historische Gespür abhanden gekommen ist.
Wird die Ukraine auseinanderbrechen?
Peter Scholl-Latour: Dieser Zerfall ist doch in vollem Gange. Man hat ja gar nicht zur Kenntnis genommen, dass die Ukraine kein geeintes Land ist. Die Ukraine war ja schon immer gespalten. Zwei gegnerische Pole haben sich in der politischen Konfrontation inzwischen herausgeschält. Der schon erwähnte westliche Landesteil, früher einmal "Ost-Galizien" genannt, sowie der stark industrielle Osten der Ukraine mit Schwerpunkt im Donezbecken, der rein russisch bevölkert ist, wie auch die Stahlschmiede von Krivoj Rog oder die Halbinsel Krim. Noch verhalten sich diese Ostprovinzen, in denen die Partei des Präsidenten Janukowitsch den Ton angab, relativ diszipliniert und ruhig. Aber der Tag könnte kommen, an dem die rauen Grubenarbeiter aus den Schächten von Donez gewalttätig in die sich verschärfenden Krawalle eingreifen.
Sie erwähnten gerade die Krim. Dort findet heute das Referendum über die Abspaltung der Halbinsel von der Ukraine hin zu Russland statt.
Peter Scholl-Latour: Die Krim war ja über Jahrhunderte ein Bestandteil Russlands und wurde erst von dem Ukrainer Chrustschow an seine Heimat übertragen.
Die Übergangsregierung auf der Krim verfügt aber über kein demokratisches Mandat
Peter Scholl-Latour: Stimmt, die Übergangsregierung in Kiew aber auch nicht. Der gestürzte Präsident Janukowitsch, gewiss keine besonders empfehlenswerte Person, wurde immerhin relativ korrekt gewählt. Außerdem, man kann über ihm sagen, was man möchte, gelang ihm das, was dem jetzigen Übergangsregime in Kiew nicht gelingt, nämlich die territoriale Integrität der Ukraine zu gewähren. Auch hatte Janukowitsch, trotz seiner engen Annäherung an Moskau, niemals die Absicht, die Unabhängigkeit der Ukraine in Frage zu stellen.
Kommen wir noch einmal auf die Krim zu sprechen. Denken Sie, der Westen wird sich mit einer russischen Krim abfinden?
Peter Scholl-Latour: Dem Westen wird wohl nichts anderes übrig bleiben. Zu einem Krieg um die Krim wird man im Westen wohl kaum aufrufen können. Warum auch, die Mehrheit der Bevölkerung dort würde einen Anschluss an Moskau favorisieren.
Die Krimtataren sehen dieser Entwicklung aber mit großer Sorge entgegen.
Peter Scholl-Latour: Was aus deren Sicht auch absolut verständlich ist. Ich halte es aber für sehr unwahrscheinlich, dass Moskau die Krimtataren unterdrücken wird. Im Gegenteil.
Weshalb?
Peter Scholl-Latour: Aus einem einfachen Grunde. In Russland selbst leben über 30 Millionen Muslime über das ganze riesige Staatsgebiet verstreut, davon ein nicht unerheblicher Anteil von Tataren, die demographisch weit stärker wachsen als die slawische Bevölkerung. In Kasan an der Wolga, mitten im Herzen Russlands, in der autonomen Region Tatarstan, leben die Tataren friedlich, verfügen über eine gewisse Selbstverwaltung. Selbst die Übergangsregierung auf der Krim, die ja jetzt das Referendum abhalten lässt, hat den Krimtataren ja sogar größere Autonomierechte zugestanden, als Kiew es tat. Putin ist schlau genug zu wissen, dass er die Krimtataren für sich gewinnen muss, um Stabilität zu erhalten.
Vielen Dank, Peter Scholl-Latour.

ukraine.htm

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