Der, der dem Vogelflug folgte

Bild: Otto-Lilienthal-Museum Anklam

DLR-Studie belegt, dass Otto Lilienthal, der vor 125 Jahren als erster Mensch nachweislich mit einem Gleitflieger abhob, einen höchst aerodynamischen Segler baute und sein Unfalltod vor 120 Jahren nicht technische Ursachen hatte

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Auf der diesjährigen Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung ILA in Berlin stellte das Deutsche Luft- und Raumfahrtzentrum DLR auf seiner Pressekonferenz eine Studie vor, die anlässlich der beiden Jahrestage Lilienthals durchgeführt wurde. Dabei wurde ein originalgetreuer Nachbau von Lilienthals Flugzeug im Windkanal intensiven Tests unterzogen und via Computersimulation zum Leben erweckt. Über die Ergebnisse der Untersuchungen zeigten sich die Forscher selbst überrascht. Um deren Reaktionen nachzuvollziehen, ist ein Blick in die Geschichte des Gleitfliegens unabdingbar. Ein solcher ist auch deswegen angemessen, weil Otto Lilienthal wirklich ein großer Meister seines Faches war und sogar die Brüder Wright zum Bau des ersten Motorflugzeugs inspirierte.

Ach, zu des Geistes Flügeln wird so leicht kein körperlicher Flügel sich gesellen!

Goethe, Faust

Sich wie ein Vogel in die Luft zu erheben, sich von ihr emportragen zu lassen und wie ein Adler in himmlischer Höhe majestätisch und sicher zu gleiten - dieser uralte Menschheitstraum fand erstmals im Okzident in der griechischen Mythologie nachweislich schriftstellerischen Niederschlag: in der Sage von "Daidalos und Ikaros".

Heldenepisches Flugdrama

Der legendäre Sturz des Ikaros nahm seinen Anfang, als sein von Heimweh geplagter Vater Daidalos den Plan schmiedete, der von König Milos auferlegten Verbannung auf der Mittelmeerinsel Kreta zu entkommen. Um der Gefangenschaft zu entfliehen, sammelte der findige Athener Vogelfedern von verschiedener Größe, verknüpfte sie in der Mitte mit Fäden und befestigte diese weiter unten mit Wachs an einem Gestänge.

"Flieg immer in der Mitte, wenn du zu tief fliegst, können die Fittiche ans Meerwasser streifen und von der Feuchtigkeit zu schwer werden und dich in die Tiefe ziehen. Wenn du aber zu hochsteigst, könnten dein Gefieder den Sonnenstrahlen zu nahekommen und plötzlich Feuer fangen", lautete Daidalos‘ gut gemeinter Rat an seinen Sprössling.

"Der Sturz des Ikaros" von Peter Paul Rubens (1636).

Als beide emporstiegen und problemlos die Inseln Samos und Paros passierten, wurde der fliegende Knirps jedoch übermütig und steuerte vom dem Wunsche beseelt, den Göttern nahe zu sein, verwegen in höhere Sphären. Die Quittung für seinen Wagemut erhielt Ikaros flugs. Die heißen Sonnenstrahlen ließen das Wachs in Sekundenschnelle schmelzen. Die Fittiche verloren ihren Halt, woraufhin die beiden Flügel von seinen Schultern abfielen. "Nun ruderte der unglückliche Knabe verzweifelt mit seinen nackten Armen … und stürzte in die Tiefe. Er versank in den Fluten des Meeres", heißt es in dem antiken Heldenepos aus dem Sagenzyklus Kreta.

Hügel- und Turmspringer des Mittelalters

Die Vorstellung, ähnlich den beiden sagenumwobenen Protagonisten der irdischen Gefangenschaft zu entfliehen und die Freiheit über den Wolken auszukosten, faszinierte die Menschen seit jeher und ermunterte einige draufgängerische Bastler und Fantasten sogar, dem Flug des Vogels real zu folgen und wie eine Fledermaus oder ein Adler den Luftraum zu durchqueren.

Für viele Vorväter der Luftfahrt jedoch, die ihre kühne Idee tatsächlich in die Tat umsetzten, endete der Jungfernflug wie bei den mythischen Vorbildern tödlich - oder zumindest höchst schmerzvoll. So auch für den in Andalusien ansässigen maurischen Gelehrten Abbas ibn-Firnas (810-887), der im Jahr 875 mit einer aus Federflügeln bestehenden Flugvorrichtung von einem Hügel im Arruzafa nahe Córdoba mehrere Hundert Meter weit geflogen und zum Startpunkt zurückgekehrt sein soll.

"Geschwinder flog er, als der Phönix fliegt, da er den Leib in Adlerfedern hüllte", kommentierte ein Dichter des 9. Jahrhundert den Flug in Versform. Dabei soll sich der muslimische Denker beide Beine gebrochen haben, ebenso wie der englische Benediktinermönch Eilmer von Malmesbury, dem irgendwann zwischen den Jahren 1000 bis 1010 bei einem Sprung von einem Turm ein 200 Meter langer Gleitflug geglückt sein soll.

Ihn ereilte jedoch das gleiche Schicksal wie seinem maurischen "Fliegerkollegen": Er landete unsanft, weil sein Fluggerät über keinen Heckflügel verfügte. Immerhin attestierte der US-amerikanische Technikhistoriker Lynn Townsend White unter Berücksichtigung der überlieferten Quellen bereits 1961 die Authentizität dieses Erstflugs und löste damit eine kleine Forschungskontroverse aus, die bis heute nicht verstummt ist.

Die erste bemannte Ballonfahrt fand am 21 November 1783 statt. Schon damals war den Protagonisten bereits klar, dass eine solche nicht mit dem "klassischen" Fliegen vergleichbar war.

Vogelmenschen der Neuzeit

Auch der italienische Mathematiker Giovanni Battista Danti (1478-1517) soll im Jahr 1499 in Perugia noch vergleichsweise glimpflich davongekommen sein. Der mit kunterbunten Federn bestückte und mit einem großen Flügelsteuer ausgerüstete Draufgänger soll sich angeblich nach Aussagen von Zeitzeugen von einem Turm gestürzt haben und dabei "mit gewaltigem Zischgeräusch" eine Zeit lang geschwebt sein, bis er plötzlich auf das Dach einer Kirche stürzte und sich dabei ebenfalls beide Beine brach.

Fraglos inspiriert von Jean-François Pilâtre de Rozier und François d’Arlandes, die im Jahr 1783 mit einem Heißluftballon die erste kontrollierte und bezeugte bemannte Ballonfahrt der Menschheit zelebrierten, unternahmen immer mehr wagemutige Hasardeure den Versuch, den Vogelflug nachzuahmen. Nicht zuletzt deshalb, weil schon damals Ballone nicht als Flugzeuge galten, waren diese doch leichter als Luft.

Der bekannteste unter ihnen war Albrecht Ludwig Berblinger (1770-1829), der als "Schneider von Ulm" in die deutschen Annalen einging und dessen erste geheime Gleitversuche zum Teil von Erfolg gekrönt waren. Doch als am 31. Mai 1811 der listige Erfinder die Probe aufs Exempel machen und die Flugtauglichkeit seines Hängegleiters einer größeren Öffentlichkeit präsentieren wollte, endete die Premiere im Fiasko. Sein geplanter Sprung über die Donau von einem dafür eigens angefertigten Gerüst endete in der selbigen. Sein Demonstrationsflug scheitere ebenso sang- und klanglos wie das Gros der Flüge anderer Abenteurer. Wie viele andere Zeitgenossen und verwegene Pioniere sowie Erfinder und Bastler sich bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert die Beine gebrochen oder sogar das Zeitliche gesegnet haben, ist nicht überliefert.

Berblingers eigenhändige Konstruktionsskizze seines Fluggeräts

Wem von ihnen es auch immer bis zum Ende des vorletzten Jahrhunderts gelungen sein mag, ein Fluggerät zu konstruieren, das nach einem Turm- oder Bergsprung eine Strecke von einigen Hundert Metern bewältigen und danach sicher landen konnte, hat sein Wissen entweder absichtlich nicht tradiert oder gute Gründe gehabt, zu schweigen. Letzteres ist eher wahrscheinlich, da weder die damaligen Ingenieure und Bastler ihre Pioniertaten und Fluggeräte näher noch die zeitgenössischen Chronisten die Ereignisse detailliert beschrieben. Und sollte dies geschehen sein, so sind deren Aufzeichnungen zumindest im Zeitstrom verloren gegangen oder wurden schlichtweg selbst von findigen Historikern noch nicht gefunden. Genau aus diesem Grund begegnen die meisten Geschichtsforscher den im Mittelalter initiierten vermeintlichen Gleitflugversuchen mit wissenschaftlicher Skepsis und stellen deren Wahrheitsgehalt partout in Frage.