Der gelähmte Moloch

Seite 3: Parlamentarier im Würgegriff des Fraktionszwangs

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Über die Entscheidungsfreiheit des Abgeordneten wird stets gebetsmühlenhaft das Grundgesetz (GG) zitiert: Nach Artikel 38 GG sind Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Nach Artikel 46 GG darf kein Abgeordneter in irgendeiner Weise gerichtlich, dienstlich oder sonst außerhalb des Bundestags wegen seiner Abstimmung zur Verantwortung gezogen werden.

Die Abgeordneten sind so frei, wie sie es sein wollen - niemand kann sie zwingen, bei einer Abstimmung die Hand zu heben oder sie unten zu lassen oder eine blaue, rote oder weiße Abstimmungskarte abzugeben.

Soweit die Theorie.

Die Wirklichkeit sieht anders aus.

Unbestritten und unbestreitbar ist, dass die Fraktionen im Bundestag und in den Länderparlamenten so gut wie immer einmütig abstimmen - schon immer einmütig abgestimmt haben und auch in Zukunft einmütig abstimmen werden. So gut wie immer bedeutet: In mehr als 99 Prozent aller Fälle. Das gilt nicht nur bei namentlichen Abstimmungen, bei denen Namenskarten abgegeben werden und das Stimmverhalten des einzelnen Abgeordneten im Protokoll festgehalten wird.

Viele Abgeordnete kommen überhaupt erst kurz vor einer Abstimmung ins Plenum und schauen, wann der Stimmführer ihrer Fraktion die Hand hebt oder welche Farbe die Stimmkarte hat, die der Geschäftsführer seiner Fraktion an der Urne hochhält.

Manche kommen nur, weil die "Stallwache" der Fraktion im Plenum über die Rufanlage durchgeben ließ, dass die Mehrheit im Plenum gefährdet ist und die Kollegen schleunigst ins Plenum kommen mögen.

Die volle Abgeordnetenentschädigung wird nur dann ausgezahlt, wenn ein Abgeordneter an den Pflichtsitzungen des Bundestags teilnimmt und seine Anwesenheit durch seine Unterschrift bestätigt. Üblicherweise gilt in den Sitzungswochen Anwesenheitspflicht von Dienstag bis Freitag. Verpasst jemand einen Sitzungstag oder vor allem eine namentliche Abstimmung, gibt es pro Tag Abzüge zwischen 50 bis 100 Euro.

Immer mal wieder kommt es vor, dass trotz aller Disziplinierungsmaßnahmen und Drohungen ungewiss ist, wie Abstimmungen ausgehen. Und immer wenn die Fraktionsspitzen nicht sicher sind, was passieren könnte, lassen sie es erst gar nicht auf den riskanten Versuch ankommen, wie die Mehrheit wohl ausfallen könnte. Das wäre einfach zu demokratisch-naiv gedacht. Nein, dann wird erst mal geübt, und zwar so lange, bis das Richtige herauskommt.

Die Freiheit des Abgeordneten ist eine Illusion

Probeabstimmungen dienen nicht etwa dazu, mal ein bisschen herumzuprobieren, wie die Abgeordneten sich wohl entscheiden könnten. Da wird nichts im Wortsinne "geprobt". Das wäre ja auch albern; denn die meisten Abgeordneten sitzen lange genug im Parlament, um zu wissen, wie man abstimmt. Die müssen nicht noch üben. Probeabstimmungen sind ein Instrument der Disziplinierung in der Hand der Fraktionsführungen.

Kommt dabei nicht das gewünschte Ergebnis heraus, nimmt die Fraktionsspitze sich die Wackelkandidaten in der eigenen Fraktion zur Brust und bekniet sie unter Einsatz vielfältiger Druckmittel. Wenn die dann schließlich versprechen, "richtig" abzustimmen, kommt die nächste Probeabstimmung. Und bis alle Abgeordneten zur Raison gebracht sind, können schon mal mehrere Probeabstimmungen nötig werden.

Um zu erreichen, dass Abgeordnete widerstandslos und ungeprüft den Entscheidungen der eigenen Fraktionsspitze folgen, braucht man keine kompetenten und erst recht keine unabhängigen Abgeordneten. Da reicht es völlig hin, wenn man einen gehorsamen Parteisoldaten hat, der brav alles abnickt, was man ihm vorsetzt. Und das ist nun einmal die einzige Qualifikation eines Parlamentariers, die wirklich gebraucht wird: Er muss spuren. Wie weit sich doch die real existierenden Demokratien vom Ideal einer lebendigen Demokratie entfernt haben.

Der parlamentarische Tiger hat keine Zähne

Wer abweicht, gilt als Verräter. Und er ist es aus parteilicher Perspektive ja auch; denn wenn eine Regierung einmal bei einer wichtigen Abstimmung keine Mehrheit bekommt, bedeutet das in aller Regel ihr Ende. Der Fehler liegt in dem System, in dem die Zukunft einer Regierung so sehr von der Geschlossenheit ihrer Abgeordneten abhängt, dass der gnadenlose Fraktionszwang schier unvermeidlich erscheint.

Fälle von Abweichung sind außerordentlich selten, ja, sie kommen so gut wie gar nicht vor. Aber wenn sie vorkommen, enden alle ähnlich: Der Abweichler wird gemobbt und isoliert und gibt entweder selbst auf oder wird abgestraft - in der Regel dadurch, dass seine Wiederwahl unmöglich gemacht wird. Wer von der Mehrheit abweicht, darf alle Hoffnungen auf eine Karriere in Partei, Fraktion oder gar Regierung fahren lassen.

Eine freie und unabhängige Meinung kann sich ein Abgeordneter, der auch noch eine Karriere machen möchte, nicht leisten - schon gar nicht in Schicksalsfragen für die eigene Partei, Fraktion oder gar Regierung. Bei anderen Themen mag das anders sein: Wenn er sich den Luxus einer eigenen Meinung zur Lage der Landwirtschaft in der südlichen Mongolei leistet, nimmt ihm das wohl niemand krumm…

"Soweit wir Mitglieder der Regierungsfraktion sind, sind wir im Grunde, was Kontrolle und Gesetzgebung anlangt, nicht mehr in der Rolle des Parlaments nach der klassischen Gewaltenteilungslehre."2 Mit anderen Worten: Das Parlament verzichtet in seiner Mehrheit freiwillig und ohne wirkliche Not auf seine vornehmste und angeblich wichtigste Aufgabe, die Kontrolle der Regierung, und überlässt das lieber der Opposition. Doch die ist machtlos und kann eigentlich nur wirkungslos schimpfen. Der parlamentarische Tiger hat keine Zähne, und die Opposition ist je nach Lage nur ein kleiner oder ein etwas größerer Rohrspatz. Er schimpft jedenfalls wirkungslos vor sich hin …