Der gelähmte Moloch

Seite 4: Fraktionsdisziplin ist kein demokratisches Instrument

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Das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten im Bundestag und in den Länderparlamenten ist in jeder Legislaturperiode ausgiebig untersucht worden. Das Ergebnis war stets das Gleiche: Sie folgen bei praktisch allen Entscheidungen der Fraktionsdisziplin. Ausnahmen gibt es so gut wie keine.

Auf jeden Fall ist die Durchsetzung von Fraktionsdisziplin kein ur- und erzdemokratischer Prozess. Die Fraktionsdisziplin allein wäre kein Problem, fügte sie sich nicht in eine Vielzahl von undemokratischen Prozeduren ein, die einander in ihrer Fülle zur Degenerierung der entwickelten Demokratie ergänzen.

Fraktionsdisziplin ist ein hierarchisches Instrument, mit dem Entscheidungen jedenfalls nicht von unten nach oben stattfinden. Die Richtung ist umgekehrt: von oben nach unten. Und wenn Entscheidungen in Parlamenten von oben nach unten stattfinden, dann ist das jedenfalls nicht gerade das Muster gelebter Demokratie.

Tatsächlich treiben die Fraktionsführungen aller Parteien erheblichen Aufwand, um Fraktionsdisziplin zu erzwingen. Es versteht sich von selbst, dass sie von ihren Abgeordneten erwarten, dass sie grundsätzlich so abstimmen, wie sie es ihren Abgeordneten vorgeben. Sie sprechen zwar meist mit vornehmer Zurückhaltung davon, dass sie das "erwarten". Aber sie meinen, dass sie das "verlangen" und in Zweifelsfall auch "erzwingen".

Einen Einblick darin, wie das praktisch abläuft, hat der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler der Internetplattform abgeordnetenwatch.de gegeben. "Jeder Abgeordnete muss nach seiner Fraktionsordnung einen Tag vor der Abstimmung schriftlich anzeigen, wenn er bei der Abstimmung von der Fraktionslinie abweichen will." Zugespitzt könnte man sagen: Sogar das freie Gewissen muss bei der Fraktionsführung angemeldet werden.

Jede Fraktion hat ihren eigenen Stil bei der Durchsetzung des Fraktionszwangs. So gibt es bei der SPD-Fraktion einen "einen einstimmig zu Beginn der Legislatur verabschiedeten Beschluss über das Selbstverständnis der Fraktion. Darin ist festgehalten, dass es dem Selbstverständnis der Fraktion entspricht, in der Fraktion getroffene Entscheidungen geschlossen im Bundestag zu vertreten."

In der CDU werden Abweichler von der Fraktionslinie ganz unverblümt als "EDEKA-Club" bezeichnet. Edeka steht dabei für das "Ende der Karriere", also die Streichung von der Liste zur nächsten Wahl.

Die Fraktionsspitzen aller Parteien können den Fraktionszwang, den sie ausüben, so oft leugnen, wie sie mögen, sie konnten es nicht verhindern, dass "Abweichler" hinterher in den Medien ausgiebig darüber berichteten, wie sie kaltgestellt wurden.3

Im Parlament geht es für den einzelnen Abgeordneten nur noch darum, ebenso wie die Fraktionsspitze abzustimmen, ohne jede Entscheidung noch auf ihre sachliche Richtigkeit und politische Stimmigkeit zu prüfen. Verantwortungsbewusstes Handeln sieht anders aus.

Im Kinderglauben an das Funktionieren der Demokratie geht alle Macht vom Volke aus, das seine Abgeordneten in die Parlamente wählt. Und die Parlamente bestimmen die Zusammensetzung der Regierung und kontrollieren deren Tun. In Wahrheit laufen die Entscheidungen in umgekehrter Richtung: Alle Entscheidungsprozesse in Parlamenten finden von oben nach unten statt. Dafür sorgen die Fraktionsspitzen. Die gelebte Demokratie in den Parlamenten ist tot. Sie hat sich selbst gemeuchelt.

Die Parlamentarier degradieren sich selbst zum Stimmvieh

Ein System der Willensbildung und Entscheidungsfindung, in dem Parlamentarier sich permanent daran orientieren, wie die Fraktionsspitze oder der "Stimmführer" entscheidet, um sich ebenso zu verhalten, lädt geradezu zum Verzicht auf ein eigenes Urteil ein.

Es führt zur Diffusion von Verantwortung und dazu, dass Abgeordnete sich selbst zum Stimmvieh degradieren. Sie geben sich zufrieden damit, dass sie nichts zu sagen haben. Ihre Interessen liegen ganz woanders: ein kommoder Job, eine komfortable Ausstattung, die Illusion der eigenen Wichtigkeit, ein hohes Ansehen, gute Bezahlung und schöne kostenlose Reisen …

So kommen immer wieder und in wachsender Zahl Entscheidungen zu Stande, bei denen man sich einige Jahre, Monate oder gar Wochen hinterher fragt, ob die Mehrheit im Bundestag denn vom Wahnsinn geritten gewesen sei. Oder noch wesentlich häufiger: Es kommt zu ausgesprochen schlampig und im Eiltempo durchgeboxten Gesetzen, in denen die Details nicht stimmen und die vom Bundesverfassungsgericht bei der nächsten Gelegenheit wieder gekippt werden müssen. Wenn die Regierung Gesetze durch das Parlament peitscht, müssen die Abgeordneten über Dinge entscheiden, die sie nicht verstehen und auch gar nicht verstehen wollen, die aber die Steuerzahler teuer zu stehen kommen könnten.

Der Kreis der wahren Entscheidungsträger in den Fraktionen ist sehr klein. Zwar haben die Fraktionen je nach Größe Vorstände von zwischen 5 und 50 Personen. Doch die einzigen Entscheidungsträger in den Fraktionen sind der Fraktionsvorsitzende und der Fraktionsgeschäftsführer.

"Sie bereiten die Sitzungen der Fraktionsvorstände der Sache und den Themen nach vor, sodass sich eine Ausweitung der Meinungsbildung dieses Kreises über den Fraktionsvorstand bis hin zu den Fraktionen ergibt. Die Fraktionsvorstände übernehmen dabei meist die Abschirmung vorbereiteter Entscheidungskonzepte in und gegenüber der Fraktion. Selbst wenn es in den Fraktionsvorständen zu differenten Auffassungen gekommen ist, erfahren die Fraktionsmitglieder davon offiziell keineswegs immer etwas."4

Der eigentliche Partner der Bundesregierung auf Seiten des Parlaments ist der Fraktionsvorsitzende der Mehrheitspartei im Bundestag. "Die Abgeordneten sehen sich den hierarchischen Spitzen der Regierung und eigenen Fraktion gegenüber. Sie betrachten, da sie die realen Machtverhältnisse zutreffend einschätzen lernen, ihre Fraktionsführer als ihre eigentlichen Auftraggeber innerhalb des Parlaments."5

Von der naiven Demokratietheorie - alle Macht geht vom Volk aus, das seine Repräsentanten wählt, die wiederum den Volkswillen repräsentieren, die Regierung bestimmen und sie laufend kontrollieren - ist in den real existierenden Demokratien nichts übrig geblieben. Im Gegenteil: Die von einer verschwindend kleinen Minderheit in den politischen Parteien erkorenen Abgeordneten wachsen in eine Oligarchie hinein, die ihnen ihre Entscheidungen vorgibt und abweichendes Verhalten bestraft.

Wollen sie politisch überleben, haben sie nur die Wahl, sich der Oligarchie zu unterwerfen. Von dem Idealbild des souveränen Parlaments mit Abgeordneten, die nur ihrem Gewissen folgend verantwortungsvoll handeln und freie Entscheidungen treffen, ist die Realität meilenweit entfernt. Der Bundestag ist längst zur Karikatur eines demokratischen Parlaments verkommen. Es ist seine Aufgabe, anderswo getroffene Entscheidungen abzunicken, vor allem Regierungsentscheidungen - so wie praktisch alle Parlamente in den entwickelten repräsentativen Demokratien der Welt.