Der gelähmte Moloch

Seite 5: Die Parlamente sind reine Abnickvereine

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Doch die Konstruktion der repräsentativen Parteiendemokratie lässt überhaupt nichts anderes zu: Würde das Parlament Beschlüsse mit der Regierungsmehrheit am Ende nicht abnicken, wäre der Zusammenbruch der Regierung die unvermeidliche Folge. Also nicken die Fraktionen der Regierung weiter alles ab, was man ihnen vor die Füße wirft. Das wird im Prinzip ewig so bleiben, und daran wird sich nie etwas ändern. Die Struktur der parlamentarischen Parteiendemokratie macht es unvermeidlich, dass die Parlamente in ihnen als nur Abnickvereine richtig funktionieren können.

Ihre Mitglieder und die Opposition dürfen allenfalls darüber ein bisschen diskutieren - aber schon die Mitglieder der Regierungsfraktionen können das nicht gar zu kritisch tun. Schließlich könnten sie auch dadurch den bloßen Schein der klaren Regierungsmehrheit trüben. Nur die Opposition kann reden, was sie mag. Sie hat sowieso keinen Einfluss auf die Entscheidungen und darf nur meckern. Mit der Bildung der großen Koalition ist das alles nur sehr viel schlimmer geworden, aber schlimm war es schon lange davor.

So oder so ist der Deutsche Bundestag, wie jedes andere Parlament auch, ein Abnickverein - und das schon seit sehr vielen Jahren. Das ist keine Entwicklung, die sich erst in den letzten Jahren Bahn gebrochen hat. Mitunter hält sich in der Bevölkerung noch die Illusion, wenigstens in den großen Plenardebatten werde in offener Kontroverse um die beste Lösung gerungen. Doch das ist nichts als ein Trugbild.

Da wird in aller Form eine Scheindebatte mit strikter Rollenverteilung inszeniert, in der jedes Detail von den Fraktionsvorständen im Vorhinein festgelegt ist. Die Fraktionsvorstände bestimmen ohnehin bei jeder Plenardebatte, wer wie lange sprechen darf oder soll und wer gefälligst seinen Mund zu halten hat.

Konkret weist der Ältestenrat des Bundestags den Fraktionen bei Plenardebatten ein Kontingent an Redezeit zu. Das richtet sich natürlich nach der Stärke der Fraktionen. Das ist bis ins allerletzte Detail minutiös geregelt. Für jede Fraktion ist genauestens festgelegt, wie viele Minuten lang ihre Redner sprechen dürfen. Dabei unterscheidet man wie in der Mode sechs Konfektionsgrößen der Debattendauer: Kurz, Standard, Mittel, Lang, XL und XXL.

Auch diese Zeit wird von oben nach unten, von den Fraktionsvorständen an ihre Abgeordneten vergeben. Nicht etwa, dass ein einzelner Abgeordneter auf die abwegige Idee verfiele: "Ich möchte zu dem Thema mal was sagen." Da könnte ja jeder daherkommen. Die ach so freien Parlamentarier selbst haben das nicht zu entscheiden. Die haben überhaupt nichts zu sagen, was man ihnen vorher nicht ausdrücklich erlaubt hat. Von einer offenen und freien Debatte, in der die Abgeordneten von ihrem Gewissen getrieben ans Rednerpult drängen, kann überhaupt keine Rede sein. Die hat es im Bundestag nie gegeben und die gibt es auch im neuen Bundestag nicht.

Wer glaubt, dass die Abgeordneten ans Rednerpult eilen, weil ihnen ein akutes Thema wichtig ist, der irrt. Welcher Abgeordnete überhaupt und wie lange sprechen darf, wird von oben festgelegt, vom Fraktionsvorstand; und nicht etwa von den einzelnen Abgeordneten. Außer Abnicken dürfen die so gut wie überhaupt nichts. Da stirbt die letzte Hoffnung auf das rudimentäre Bestehen der demokratischen Idee.

Kasperltheater statt offener Debatte freier Parlamentarier

Tatsächlich findet dort ein von vorne bis hinten durchgeplantes, durchorganisiertes und durchinszeniertes Kasperltheater statt, in dessen Drehbuch bis ins letzte Detail festgelegt ist, wer wann was und wie lange darf und auch, wer die Klappe zu halten hat.

Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele erklärte in der "Mitteldeutschen Zeitung": "Ich habe zehn Jahre lang versucht, Rederecht zu Afghanistan zu bekommen. Das ist mir bis heute nicht gewährt worden." Wie gesagt: von seiner eigenen Fraktion.

Kontroversen sind ausschließlich zwischen den Fraktionen erwünscht. Und da geht es um den Nachweis, dass die eigene Fraktion Recht und die anderen Fraktionen Unrecht haben und schon immer hatten. Sonst gar nichts. Die Parlamentarier verhalten sich wie dressierte Hunde, denen man nur zurufen muss "Heb's Pfötchen", und schon heben sie gehorsam ihre Pfoten.