Der kurze Weg von der politischen Lüge zur Gewalt

Seite 3: Nichtwissende: die hart umkämpfte Zielgruppe

Und noch bevor heute der erste Polit-Slogan gesprochen ist, schränken Rhetorik-Taktiker bereits die Zielgruppe der Rezipienten ein: nicht die Wissenden, mit Sachkenntnis reichlich Ausgestatteten, sondern die weitgehend Unwissenden, jene, die nur über rudimentäre soziopolitische Kenntnisse verfügen, werden als Zielgruppe, etwa vor Wahlen, privilegiert.

Kaum ein insinuierter Rassismus erscheint zu obszön, um nicht geteilt zu werden, kein Gerücht über die politischen Mitbewerber zu abstrus, um nicht Eingang in einen Kurztext zu finden. Geradezu schamlos werden Wählerinnen und Wähler in den sozialen Medien bespielt, mit grenzenloser Infantilität, gepaart mit Lügen und unverfrorener politischer Selbstdarstellung.

Das wirklich Schockierende daran ist jedoch, dass dieser kommunikative Vulgär-Eintopf oftmals funktioniert! Große Teile des Wahlvolks weisen die sprachverseuchten, lügengetränkten Polit-Pralinen nicht empört zurück, sondern leiten diese, nach Instant-Feedback lechzend, unkritisch weiter. Die digitale Vervielfältigung erledigt alles Übrige.

Karriereopportunismus auch in der Kultur?

Namhaften Personen des internationalen Kulturbetriebes, die sich beharrlich weigern, Position zu beziehen, wird angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Ähnliches zum Karriere-Verhängnis, was opportunistischen Mitläufern schon immer und zu Recht vorgeworfen wurde: In den 1930er-Jahren etwa lautete der Vorwurf an die Mitläufer nicht, dass sie keine antifaschistischen Heldentaten gegenüber der NS-Diktatur vollbracht hätten. Denn dazu war und ist nicht jeder Mensch in der Lage; es war deren "Sich-bereitwillig-mit-der-Lüge-Arrangieren".

Mit diesem Beitrag zur Aufrechterhaltung des Status quo innerhalb eines Unrechtsregimes hat sich die große Masse der Mitläufer moralisch mitschuldig gemacht.

Dabei hob bereits Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik den politisch-ethischen Aspekt und die Tugend der Wahrhaftigkeit hervor. Wahrhaftig sei nicht jener, der sich bloß an Verträge hält, denn der sei bloß vertragskonform oder halte sich an Gesetze. Wahrhaftigkeit sollte demzufolge als Tugend nicht nur in bedeutsamen Anlässen zum Tragen kommen, sondern gerade in jenen Fällen "wo es nicht darauf ankommt".

Hinsichtlich ihrer politischen Arroganz unterscheiden sich die gegenwärtigen Weltmächte demgemäß kaum von den antiken. Zu oft missbrauchen sie die politische Rhetorik nach wie vor dazu, das böse Große klein und das kleine Gute groß wirken zu lassen.

Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Er ist Autor von Minimale Moral (2016) und Uneigentlichkeit. Philosophische Besichtigungen zwischen Metapher, Zeugenschaft und Wahrsprechen (2020) sowie zuletzt: Verbalradikalismus. Kritische Geistesgeschichte eines soziopolitisch-sprachphilosophischen Phänomens (2021, 2. Aufl.).