Der letzte Krieg des alten Generals

Der ehemalige General Wojciech Jaruzelski steht wegen der Verhängung des Kriegsrechts im Jahr 1980 vor Gericht

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2004 musste sich Wojciech Jaruzelski vor der Justiz für die blutige Niederschlagung der Danziger Unruhen von 1970 verantworten. Seit dem 12. September dieses Jahres steht der ehemalige General wegen seiner wichtigsten politischen Entscheidung vor Gericht, der Verhängung des Kriegsrechts. Dies dürfte der letzte Krieg des alten Generals sein, dem es um seine Ehre, seinen Anklägern um Gerechtigkeit geht. Bis zu 10 Jahre Haft drohen dem ehemaligen Staatspräsidenten. Doch ob der Wunsch nach Gerechtigkeit tatsächlich ausschlaggebend für diesen Prozess ist, ist fraglich. In Polen selber ist der Prozess höchst umstritten. Zudem hat die Geschichte schon längst ihr Urteil über den alten General gesprochen.

Er hat immer noch die gleiche Brille, die in den 80er Jahren zu seinem Markenzeichen wurde. Und selbst die Frisur hat er in den letzten 20 nicht verändert– die schütteren Haare sind immer noch nach hinten gekämmt, lediglich grauer ist das Haupthaar geworden. Es reicht ein Blick um zu wissen, dass es sich bei dem Mann in der Nachrichtensendung auf TVN24 um den General handelt, der am 13. Dezember 1981 für mich, damals einem 6-jährigen Knirps, zum Sinnbild des Bösen wurde.

Wie an jedem letzten Tag der Woche stand ich auch an diesem Sonntag früh auf, um nach dem Frühstück und vor dem lästigen Gang in den Kindergottesdienst, noch etwas kindliches Vergnügen zu erhaschen. Doch an diesem verschneiten Wintersonntag war alles anders. Anstatt meiner geliebten Kinderserien, die das Staatsfernsehen als Konkurrenzprogramm zur katholischen Kirche ausstrahlte, erschien ein Uniformierter auf dem schwarzweißen Bildschirm. Mit ernster Stimme und der Flagge des polnischen Militärs im Hintergrund, wandte sich der Mann, den ich bis dahin nur gelegentlich in den Nachrichten wahrgenommen habe, an das polnische Volk. Was er sagte, verstand ich damals nicht, dass es aber von großer Bedeutung war, wurde mir an den Reaktionen meiner Mutter und meiner älteren Schwester bewusst. „Wir haben Krieg“, stammelten beide weinend.

Jaruzelski verkündet am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht

Seit diesem Tag hat sich der Name des Uniformierten tief in mein Gedächtnis eingebrannt: Wojciech Jaruzelski. Auch deshalb, weil ich in den nächsten Tagen begann, die Worte meiner Mutter und meiner Schwester zu verstehen. Fast täglich rollten Panzerkolonnen durch die Hauptstraße meiner Heimatstadt, an jeder wichtigen Straßenkreuzung stand ein Panzerwagen mit Soldaten davor, die willkürlich Autos aus dem Verkehr herauswinkten um Personenkontrollen durchzuführen. Es war halt alles wie im Krieg, nur dass dieser Krieg nicht gegen einen äußeren Feind, sondern gegen das eigene aufmüpfige Volk geführt wurde, welches genug hatte von über 30 Jahren Kommunismus und sich deshalb seit August 1980 massenhaft in der Solidarnosc, der ersten freien Gewerkschaft östlich des Eisernen Vorhangs, organisierte.

Und mit welchen anderen Mitteln die „bösen Kommunisten“, wie mir damals Verwandte und andere Erwachsene erklärten, ihren Krieg noch führten, lernte ich ebenfalls kennen. Eines Tages, gerade von der Schule kommend, erschrak ich, als die ZOMO, eine damals berühmt berüchtigte paramilitärische Einheit der Miliz, die Wohnung unseres Nachbarn stürmte. Und mein Bruder, den Behörden schon wegen unserer deutschen Mutter suspekt, wurde aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Solidarnosc, die lediglich aus seiner Unterschrift im Mitgliedsausweis der Gewerkschaft bestand, von der Uni exmatrikuliert. Erst ein Jahr später, nach einem Jahr Buße in einem Elektrizitätswerk, durfte er wieder sein Ingenieursstudium an einer Abenduniversität fortsetzen.

Bis zum 22. Juli 1983 dauerte dieser Krieg an. Doch das Kriegsrecht, wie wir heute wissen, bedeutete für die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei zwar eine gewonnene Schlacht, jedoch nicht einen gewonnenen Krieg. 1989, auch durch die Perestroika in der Sowjetunion ermöglicht, besiegelten die Kommunisten am Runden Tisch ihr eigenes Ende. Ich persönlich bekam es nur noch aus der Ferne mit. 1985 reiste meine Mutter mit mir nach Deutschland aus.

Doch die Erlebnisse und Erfahrungen aus den Tagen des Kriegsrechts ließen und lassen mich bis heute nicht los. Als ich 1990, zum ersten Mal seit unserer Ausreise wieder in Polen weilte, war mein erstes Buch, was ich damals erstand, "Die Nacht des Generals" von Gabriel Meretik. Darin rekonstruiert der im Jahr 2000 verstorbene französische Journalist die Ereignisse in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981. Es folgten weitere Bücher und Dokumentensammlungen über das Kriegsrecht und die Solidarnosc, die alle geordnet in meinem Bücherregal stehen. Und weitere Bände dürften hinzukommen, da die polnischen Verlage regelmäßig neue Werke zu diesem Thema herausbringen.

Es ist kein Trauma, dass mich dazu bringt, sich immer wieder mit dem Kriegsrecht zu beschäftigen. Wozu auch, ich wurde weder inhaftiert noch habe ich selber einen Verwandten oder Bekannten, der in ein Internierungslager kam. Und das Schicksal, wie es mein Bruder erlitt, erlitten 1981 auch tausend andere seiner Altersgenossen, die im jugendlichen Idealismus sich in die Solidarnosc einschrieben, ohne sich weiter in ihr zu engagieren. Ja, selbst die meisten Polen haben in den Jahren des Kriegsrechts kein Trauma davon getragen. Seine damals bekanntesten Gegner, allen voran Lech Walesa, Adam Michnik, Tadeusz Mazowiecki oder die bereits verstorbenen Bronislaw Geremek und Jacek Kuron, die in den 80er Jahren alle mehrmals interniert wurden, haben schon zu Beginn der 90er Jahre ihren Frieden mit dem General geschlossen. Adam Michnik, der Gründer der Gazeta Wyborcza, knüpfte sogar freundschaftliche Bande zu Wojciech Jaruzelski.

Jaruzelski ist eine der faszinierendste historische Persönlichkeiten Polens

Nein, es sind andere Gründe, die mich und die Polen immer wieder bewegen, sich mit dem Kriegsrecht zu befassen. Einerseits möchte man endlich erfahren, ob das Kriegsrecht tatsächlich das "kleinere Übel" war und mit dessen Einführung eine Invasion der sowjetischen Armee verhindert wurde. Diese Gefahr war den Solidarnosc-Aktivisten jedenfalls von Beginn ihrer Tätigkeit an bewusst. Memoiren von Oppositionellen und Dokumente der Solidarnosc belegen dies. Seit Beginn der Solidarnosc wurde in der Oppositionsbewegung über eine mögliche Reaktion der Sowjetunion debattiert, die für die Solidarnosc damals nur aus zwei Möglichkeiten bestand, einer "Finnlandisierung" oder einer "Tschechoslowakisierung“ des Landes. Andererseits ist es aber auch die Person Wojciech Jaruzelski selber, die Polen sich immer wieder mit dem Thema beschäftigen lässt. Neben Jozef Pilsudski und Papst Johannes Paul II., ist Wojciech Jaruzelski die wahrscheinlich ambivalenteste und dadurch faszinierendste historische Persönlichkeit, die das Land östlich der Oder in den letzten 100 Jahren hervorgebracht hat.

Geboren 1923 als Spross einer kleinadligen Familie, deren Wurzeln bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen, genoss er eine typisch privilegierte Erziehung im Vorkriegspolen. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen floh die Familie nach Litauen, von wo sie von der einrückenden Sowjetarmee weiter nach Sibirien deportiert wurde. Dort mussten die Jaruzelskis, ebenso wie tausender anderer deportierter Polen, Zwangsarbeit leisten. Um dieser zu entkommen, schloss sich Wojciech Jaruzelski der in der Sowjetunion neu entstandenen polnischen Armee an, die von Moskau als Gegenstück zur polnischen Exil-Regierung in London gedacht war, mit der er im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen kämpfte.

Nach dem Krieg begann Jaruzelski eine steile Militärkarriere. 1956 wurde er General, 1968 Verteidigungsminister. Es ist eine militärische Laufbahn, die sein Leben bestimmte. Erst am 31. Januar 1991 schied er aus der Armee aus. Verbunden war diese Karriere aber auch mit der kommunistischen Partei, der er seit 1947 angehörte. Mit jedem Sprung auf der militärischen Karriereleiter ergatterte er auch immer wichtigere Positionen innerhalb der Partei. 1971 wurde er Mitglied des Politbüros, am 18. Oktober 1981 Generalsekretär – acht Monate, nachdem er zum Ministerpräsidenten avancierte.

Hat die Verhängung des Kriegsrechts wirklich einen drohenden Einmarsch der Sowjetarmee verhindert?

Und diese politische Karriere zwang ihn auch zu seiner schwierigsten Entscheidung, der Ausrufung des Kriegsrechts. Eine Entscheidung, die selbst in den letzten 20 Jahren sein Leben bestimmte und es noch bis heute tut. Sechs Bücher, von denen auch zwei auf deutsch erschienen sind, hat Jaruzelski seit der Wende geschrieben. Und in jedem seiner Werke verteidigt er seine Entscheidung. Das Kriegsrecht habe einen bevorstehenden Einmarsch der Sowjetarmee verhindert und gleichzeitig die von Streiks geschwächte Wirtschaft des sozialistischen Staates vor dem endgültigen Kollaps bewahrt.

Von Jahr zu Jahr haben die Polen Jaruzelski diese Begründung mehr abgenommen. 1996 amnestierte ihn sogar der Sejm, als er wegen des Kriegsrechts vor Gericht gestellt werden sollte. Auch deshalb, weil einige Dokumente der SED, die beispielsweise von den beiden Berliner Historikern Michael Kubina und Manfred Wilke 1995 veröffentlicht wurden, auf eine mögliche Invasion der Warschauer Pakt-Truppen hinweisen. Doch seine Argumentation hat seit Ende der 90er Jahre Kratzer bekommen. Ausgerechnet auf einer 1998 in Polen stattgefundenen Konferenz bezichtigte der ehemalige Sowjetmarschall Viktor Kulikow Jaruzelski der Lüge. Jaruzelski selber soll den Kreml um eine Invasion des sozialistischen Bruderstaates gebeten haben, sagte Kulikow und stützte damit die Behauptung von Anatolij Gribkow, die der ehemalige Generalstabchef der Vereinten Streitkräfte der Warschauer Pakt-Staaten in seinem Buch über das Militärbündnis aufstellte.

Im selben Jahr lieferte der amerikanische Historiker Marc Kramer Beweise für die Behauptungen Kulikows und Gribkows. Im Bulletin des Cold War International Project veröffentlichte der Historiker des Woodrow Wilson International Center in Washington bis dahin unbekannte Aufzeichnungen des Generalleutnants Viktor Anoschkin, der 1981 Adjutant Kulikows war. Laut dieser Notizen bat Jaruzelski noch zwei Tage vor seinem Coup um militärische Unterstützung der Sowjetunion. Doch aufgrund des Krieges in Afghanistan, der deswegen angespannten Beziehungen zum Westen, enormer Probleme in der eigenen Armee und aus Furcht vor möglichen Kampfhandlungen in Polen, wies der Kreml diese Anfrage zurück. „Wir werden keine Truppen senden, selbst wenn die Solidarnosc Polen übernimmt“, soll KGB-Chef Jurij Andropow während einer Sitzung des Politbüros am 10. Dezember 1981 gesagt haben.

Jaruzelski brach in Tränen aus, als Kulikow diese Geschichte 1998 erzählte. „Wie kannst du nur“, soll er damals den ehemaligen Sowjetmarschall auf Russisch angeraunt haben und blieb in den darauf folgenden Jahren bei seiner Argumentation. Nur, dass er diesen seinen letzten Krieg, in dem es allein nur um seine Ehre als Offizier und Patriot geht, nicht mehr nur an der innerpolnischen Front, sondern zusätzlich auf dem internationalen Feld der Geschichtsforschung führen musste.

Anklage wegen der „Bildung einer kriminellen und bewaffneten Vereinigung“

Seit einigen Wochen muss der General a.D. nun einen Dreifrontenkrieg bestehen. Im Frühjahr dieses Jahres erhob das Institut für Nationales Gedenken, eine von der Politik geschaffene Melange aus Forschungsstätte und Staatsanwaltschaft, Klage gegen das ehemalige Staatsoberhaupt und sechs weitere Repräsentanten des damaligen Regimes. Skurrilerweise wegen „Bildung einer kriminellen und bewaffneten Vereinigung“ müssen sich die sieben nun greisen Männer seit dem 12. September vor Gericht verantworten, und nicht offiziell wegen des Kriegsrechts.

Allein dieser Anklagepunkt lässt viele Polen an dem Sinn dieses Prozesses zweifeln. In den letzten Jahren fanden zwar einige Strafverfahren gegen ehemalige kommunistische Milizionäre und Verantwortliche statt, wie zum Beispiel im Fall des Kattowitzer Bergwerks Wujek, bei dessen Erstürmung am 16. Dezember 1981 neun streikende Bergleute von der ZOMO umgebracht wurden, doch all diese Prozesse basierten auf dementsprechenden Anklagen. Nicht ohne Grund werden deshalb bei dem aktuellen Verfahren gegen Wojciech Jaruzelski und seine damaligen Mitstreiter von manchen politische Hintergründe vermutet.

Und tatsächlich, in den letzten Jahren, vor allem aber während der Kaczynski-Regierung, geriet Wojciech Jaruzelski erneut in den Fokus der Politik. Für die Kaczynskis und die gesamte Rechte fungiert er als das Symbol des bösen Kommunisten, dem es auch in dem demokratischen Polen gut geht, zu gut geht. So sprach sich Jaroslaw Kaczynski beispielsweise für die Streichung der Privilegien und eine Rentenkürzung für Jaruzelski und andere Vertreter der Volksrepublik aus und erntete dafür Zustimmung von einem Großteil der Bevölkerung. Und ähnliches versucht nun die liberale Regierungspartei PO, die sich Ende September ebenfalls für eine Kürzung der Renten ehemaliger kommunistischer Führer aussprach.

Dass diese populistischen Forderungen auf Zustimmung stießen und stoßen, ja dass die polnische Rechte in den letzten Jahren überhaupt Erfolg haben konnte, liegt auch an der seit der Wende existierenden III. Republik. Das neue demokratische Polen hat es einfach nicht vermocht, seine kommunistische Vergangenheit aufzuarbeiten. Historiker haben zwar seit 1989 freien Zugang zu den Archiven und leisten eine hervorragende wissenschaftliche Arbeit, doch der „dicke Schlussstrich“, der von Tadeusz Mazowiecki eigentlich als eine Geste des guten Willens und Chance eines gesellschaftlichen Neubeginns gedacht war, ließ eine endgültige Aufarbeitung, wie es sie zum Beispiel in der ehemaligen DDR – obwohl die Birthler-Behörde auch nicht gerade ein Ort der Objektivität ist –, und anderen sozialistischen Staaten gab, nicht zu.

Seitdem werden in Polen immer wieder ehemalige kommunistische Agenten entlarvt, und dies meistens nur aus politischen Gründen. Lech Walesa kämpft seit 1992 gegen den Vorwurf an, als IM Bolek (Vom Missbrauch der Geschichte) in den 70er Jahren Mitstreiter verraten zu haben. Selbst die katholische Kirche, einst Bollwerk gegen das kommunistische Regime, muss sich und der Gesellschaft eingestehen, von Stasispitzeln unterwandert gewesen zu sein und sich von dieser Last niemals gereinigt zu haben (Eine polnische Kulturrevolution).

Und nun, fast 27 Jahre nach der Verhängung des Kriegsrechts und 19 Jahre nach der Wende, müssen sich Wojciech Jaruzelski und sechs weitere Angeklagte für ihre Entscheidung verantworten. Doch im Grunde genommen stehen diese alten Männer nur stellvertretend für die III. Republik vor Gericht und ihre vertane Chance, die Vergangenheit nicht konsequent aufgearbeitet zu haben. Ähnlich muss jedenfalls auch Czeslaw Kiszczak denken, ebenfalls ehemaliger General und Innenminister in den 80er Jahren, der trotz Anklage bisher zu keinem einzigen Verhandlungstermin erschienen ist.

"Jaruzelski lebt in einer Phantasiewelt"

Ganz anders dagegen Wojciech Jaruzelski. Keinen einzigen Verhandlungstag ließ der ehemalige General aus. Stehend, mit geradem Rücken und fester Stimme plädierte er auf unschuldig und begründete bis jetzt in vier Anhörungen die Verhängung des Kriegsrechts, mit den von ihm bekannten Argumenten. „Die Sowjets wollten nicht, aber im Falle des Falles hätten sie es gemusst“, erklärte Jaruzelski am vergangen Dienstag, dem bisher letzten Verhandlungstag, bei dem es allein um die Gefahr einer möglichen sowjetischen Intervention ging. Als Beweise führte er Aussagen damals westlicher und östlicher Politiker an. „Behauptungen, es hätte Bitten um brüderliche Hilfe gegeben, sind eine Beleidigung für das polnische Militär“, sagte der ehemalige General erzürnt zu den schon erwähnten Vorwürfen.

Doch solche Begründungen nehmen heute die meisten Historiker Jaruzelski nicht mehr ab. „Jaruzelski lebt in einer Phantasiewelt, in der er eine selbst geschaffene Rolle in der polnischen Geschichte spielt“, sagt der bekannte Krakauer Historiker Antoni Dudek und verweist auf Dokumente, die schon in den 90er Jahren veröffentlicht wurden. Auch der Historiker Wojciech Roszkowski beruft sich auf diese Dokumente: „Die Gefahr einer sowjetischen Intervention in Polen war nicht unbedingt gegeben.“

Auch ich lasse die Argumente Jaruzelskis seit Jahren nicht mehr gelten. Viele wichtige Dokumente, die endgültig die Wahrheit ans Licht bringen könnten, sind zwar noch in den russischen Archiven verschlossen, doch so manches was heute bekannt ist, lässt Zweifel aufkommen an einer möglichen sowjetischen Intervention in Polen. Vielmehr dürfte die Verhängung des Kriegsrechts ein innerpolnischer Akt gewesen sein, der das kommunistische Regime an der Macht erhalten sollte. Ein Akt, der fast 10.000 Oppositionelle in Internierungslager brachte und wahrscheinlich 122 Menschen das Leben kostete.

Doch wenn ich im polnischen Fernsehen den Prozess verfolge, sehe ich nicht den gleichen bösen General wie 1981, der er damals für mich war, sondern einen alten Mann. Einen alten Mann, dem die Hände zittern, dem es aber die „Ehre als polnischer Offizier verbietet“, sich während des Plädoyers zu setzen, obwohl es ihm die Richterin angeboten hat. Und bei diesem Anblick verspüre ich, wie die meisten mir bekannten Polen, nur Mitleid. Mitleid mit einem 85-Jährigen, den die Geschichte schon längst verurteilt hat – zu einer tragischen Person, die unter der Last ihrer Entscheidung leidet, auch deshalb, weil sie den endgültigen Niedergang der Volksrepublik, an die Jaruzelski geglaubt hat, nur um ein Jahrzehnt verschoben hat. 1989 leitete der General selber die Demokratisierung ein. Einen anderen Ausweg hatte er damals nicht mehr.