Der politische Islam im Marsch durch die Institutionen

Seite 2: Das Minenfeld des Politischen Islam

Unter dem Begriff Islamismus werden verschiedene Bewegungen und Strömungen zusammengefasst, die eines gemeinsam haben: Islamisten sehen im Islam eine universale, gottgewollte Ordnung, die jeden, wirklich jeden Bereich des Lebens umfasst. Der Islam, so die Überzeugung, ist also nicht nur eine persönliche, private religiöse Angelegenheit, sondern auch eine juristische und politische. Individualität, Pluralismus, Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit, Säkularität, Volkssouveränität und viele andere Errungenschaften, die demokratische Gesellschaften ausmachen, werden abgelehnt. Nur religiöse Gebote und heilige Texte entsprechen dem Willen von Allah und stehen somit über jeder weltlichen, von Menschen gemachten Ordnung. Das Ziel aller Islamisten ist es, ein Kalifat zu errichten.

Ahmad Mansour

Dieses ideologische Kampffeld geht quer durch alle Parteien. In diesem Diskurs geht es um die angebliche Diskriminierung von Muslimen, welche pauschal als "antimuslimischer Rassismus" deklariert wird. Dabei bestreitet kaum jemand, dass es Diskriminierung von Muslimen, Juden, Hindus, Buddhisten etc., gibt. Wieso also das Adjektiv "antimuslimisch"?

Regelmäßig erhitzen sich die Gemüter in der Diskussion um das Tragen des islamischen Kopftuchs in Schulen, Justiz und anderen öffentlichen Ämtern. Wobei es einen Unterschied macht, ob eine Muslima auf den Hijab besteht, der heute als Symbol des politischen Islams gilt oder ein lockeres Kopftuch trägt, das nicht jedes Haar verbirgt.

Es gab mal andere Zeiten in Deutschland. In den 1970er/80er/90er-Jahren prägte das islamische Kopftuch nicht das Straßenbild. Da gingen Männer und Frauen zum Gebet in die Moschee und kleideten sich für den Moschee-Besuch entsprechend. Das streng islamisch gebundene Kopftuch spielte keine Rolle, es genügte ein lockeres Kopftuch.

Dass das Kopftuch und die neuerdings angesagte "korrekte" islamische Kleidung generell, ohne Differenzierung im öffentlichen Dienst, an den Schulen, Kitas und Gerichten etc. eingeführt werden soll, ist neueren Datums. CDU, SPD, Grüne und Linke haben heute kein Problem mehr damit, Talkrunden mit - vorsichtig ausgedrückt - fragwürdigen Personen mit Verbindungen zu islamistischen Organisationen durchzuführen.

Kübra Gümüsay ist eine sehr umstrittene Person, der eine unreflektierte Nähe zur islamistischen Regierung Erdogan und den Milli-Görus-Netzwerken sowie der Muslimbruderschaft vorgeworfen wird. Was dies in der Lebenswelt der liberalen Muslimas oder anderen religiösen Minderheiten in unserer Gesellschaft auslöst, ist vielen Entscheidungsträgern nicht bewusst.

Was empfindet z.B. ein ezidisches Mädchen, das aus der Sklaverei des Islamischen Staates befreit wurde, deren Familie sich vor dem Genozid nach Deutschland retten konnte, wenn ihre Lehrerin den Hijab und "islamisch korrekte" Mode trägt, die sie aus ihrer Sklaverei her kennt? Einem Kind kann man nicht erklären, dass sich der IS bestimmter Symbole oder eines Kleidungsstils bedient hat, die selbst in Deutschland mittlerweile akzeptiert sind.

Für dieses Kind ist das die Wiederkehr seiner Traumata. Wie geht es einer Lehrerin mit Migrationsgeschichte, die kein islamisches Kopftuch trägt und deshalb von islamistisch geprägten Schülern und Eltern zur Rede gestellt, nicht ernst genommen oder sogar bedroht wird?

75 Prozent der Muslime in Deutschland betrachten ihre Religion als Privatsache und halten es mit einem liberalen Islam, so wie die meisten Christen mit einem liberalen Christentum. Nur 25 Prozent der Muslime sind in den Moscheen von Ditib, Milli Görüs, den Grauen Wölfen oder der Muslimbrüder organisiert und nur eine sehr kleine Minderheit ist in den Organisationen der Gülenisten organisiert. Von ihnen wurde der Hijab als Symbol des politischen Islams stilisiert. Von ihnen kommt auch der Ruf nach einer Quotenregelung für Muslime bei den politischen Mandaten der Parteien.

Religion ist aber in erster Linie Privatsache und sollte von keiner Partei zum Stimmengewinn benutzt werden. Ali Ertan Toprak stellt in seinem Kommentar in der Zeit fest:

"Kein ernst zu nehmender gesellschaftlicher Akteur würde mit demselben Argument nach der Glaubensfestigkeit von Abgeordneten fragen, um herauszufinden, ob die Christen im Bundestag angemessen vertreten werden. Nicht mal die Kirchen würden sich solch einer Absurdität hingeben."

Es wäre an der Zeit, dass die Bundesregierung, die Landesregierungen und die Wohlfahrtsverbände wie z.B. die Diakonie oder der Paritätische Wohlfahrtsverband ihre Zusammenarbeit mit den Unterorganisationen des Politischen Islams kritisch hinterfragen.

Dabei gäbe es auch förderungswürdige liberale oder säkulare Muslime. Sie werden aber von den Parteien noch immer nicht gehört, denn sie haben keine mächtigen Lobbyorganisationen wie z.B. Milli Görüs, die Islam-Föderation, DITIB oder den Zentralrat der Muslime im Rücken.

Die Organisationen des politischen Islams

Die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa (Atib) ist Gründungsmitglied des Zentralrats der Muslime, stellt dort den stellvertretenden Vorsitzenden und ist eine der mitgliederstärksten Organisationen im Zentralrat der Muslime. Das Bundesfamilienministerium förderte den Verband zwischen 2016 und 2018 als Einsatzquelle im Geschäftsbereich des Bundesfreiwilligendienstes mit Flüchtlingsbezug.

Auch wenn die Bewertungen des Verfassungsschutzes immer wieder kritisch hinterfragt werden müssen, weil zu oft Sachkenntnis und gute Recherchearbeit fehlt, stimmt dessen Einschätzung, Atib sei Teil der rechtsextremen türkischen Grauen Wölfe. Deren Überhöhung des Türkentums führe "zu systematischer Abwertung anderer Volksgruppen oder Religionen, insbesondere der Kurden und des Judentums".

Auch andere Bundesministerien und mehrere Bundesländer fördern bis heute Projekte des Zentralrats der Muslime und seiner Unterorganisationen, wie auch die von der Türkei kontrollierten Ditib, die Islamföderation, der auch die islamistische Organisation Milli Görüs angehört oder Organisationen der Gülen-Bewegung. Die Gülen-Vereine werden oft vergessen, wenn es um die Bewertung der Ausrichtung muslimischer Organisationen geht.

Bis vor einigen Jahren dementierten Gülen-Vereine in Deutschland noch, dass sie der Gülen-Bewegung angehören und dass es Netzwerke bzw. Strukturen gibt, in welche sie eingebunden sind. Heute präsentieren sie sich als "gülen-nah" oder von Gülen "inspiriert". Sie werden in Deutschland gerne als Alternative zu den AKP-nahen muslimischen Organisationen gehandelt, obwohl sie ähnliche Ziele wie die AKP-nahen Organisationen verfolgen.

Auch sie wollen eine Gesellschaft und einen Staat, dem die islamischen Regeln und Gesetze zugrunde liegen. Man sollte langsam begreifen, dass die Wirkung der verschiedenen Islamisten-Organisationen umso stärker wird, je weniger sich die Gesellschaft mit ihnen kritisch auseinandersetzt und ihre eigentlichen Ziele erkennt.

Der Politische Islam will nicht, dass die Menschen hier in Koexistenz leben, sich durchmischen und demokratischer werden. Denn das würde bedeuten, dass manche Muslime womöglich mit der Zeit weniger religiös würden. Dass andere ihren Kindern endlich eine Liebesbeziehung vor der Ehe erlaubten. Es gäbe mehr Frauen, die kein Kopftuch bräuchten, um ihre Verbundenheit zur Religion unter Beweis zu stellen. Es gäbe mehr Muslime, die eine Ehe mit einem Christen oder Atheisten eingingen. Doch das ist genau das, was der Islamismus nicht möchte.

Ahmad Manour

In Deutschland versucht man an Universitäten Studiengänge einzurichten, die politisch unabhängige Imame ausbilden. Aber diese Imame wollen die Moscheen nicht haben. Der türkische Dachverband Ditib setzt nur auf eigene, in Deutschland ausgebildete Imame. Damit soll die Unabhängigkeit von der Türkei bewiesen sein. Aber wie geht das zusammen, wenn Ditib seine Order, die Texte der Freitagsgebete, die Interpretationen des Koran, die Bücher oder Curricula direkt von der türkischen Religionsbehörde Diyanet empfängt?

Die CDU-Bundestagsfraktion fordert nach den Angaben der Welt "die deutschlandweite Einrichtung von Lehrstühlen an Hochschulen zum Thema Islamismus, eine breit angelegte Schulstudie über islamistische Einflüsse, die Einrichtung einer 'Dokumentationsstelle politischer Islamismus in Deutschland und Europa' und eines entsprechenden Expertenkreises im Bundesinnenministerium sowie für Moscheevereine die Offenlegung von ausländischen Finanzströmen." Diese Forderung hört sich gut an - wenn die Stellen denn tatsächlich mit unabhängigen Experten besetzt werden und nicht mit Leuten, die eben diesem Spektrum angehören.

Langsam wird die Komplexität des Problems in den Parteien wahrgenommen, wenn auch mit unterschiedlichen Motiven. Die Bundestagsfraktion der CDU fordert neuerdings, staatliche Kooperationen und Finanzierungen von islamistisch beeinflussten Islamverbänden zu beenden. Dies betrifft mehrere große Dachverbände, deren Mitgliedsvereine vom Verfassungsschutz beobachtet werden - auch den Zentralrat der Muslime.

"Der politische Islamismus, der vordergründig gewaltfrei agiert, aber Hass, Hetze und Gewalt schürt und eine islamische Ordnung anstrebt, in der es keine Gleichberechtigung, keine Meinungs- und Religionsfreiheit und auch keine Trennung von Religion und Staat gibt, hat sich in Teilen unserer Gesellschaft breitgemacht", heißt es in einem Positionspapier der Fraktion, das der Welt vorliegt. "Sämtliche finanziellen Zuwendungen, Förderungen, Vertragsbeziehungen und Kooperationen mit diesen Organisationen müssten überprüft und eingestellt werden, heißt es. Dies schließe auch gesetzliche Steuervergünstigungen im Sinne der Gemeinnützigkeit ein."

Dies ist ein guter Anfang. Angesichts vieler enger CDU-Kontakte zu den konservativ - islamistischen Organisationen ist jedoch Skepsis angesagt. Die Frage ist nämlich auch, wo für die CDU der politische Islamismus anfängt?

Aber auch der Partei Die Linke muss diese Frage gestellt werden. Schließlich akzeptierte sie bei dem Drei-Religionen-Haus "House of One" einen Imam der Gülen-Bewegung. Und auch mit dem Zentralrat der Muslime, dessen Vize-Vorsitzender Mehmet Alparslan Celebi auch eine leitende Funktion der islamistisch-nationalistischen ATIB ist, hat die Partei anscheinend kein Problem.

Der geschäftsführende Vorstand der Partei trifft sich seit 2018 zum Austausch mit dem Zentralrat. An dem Treffen 2018 nahm auch der ZMD Generalsekretär Abdassamad El Yazidi teil, dem seine Tätigkeit als Seelsorger in hessischen JVAs untersagt wurde, als dem Landesjustizministerium dessen Beziehungen zur Muslimbruderschaft bekannt wurden.

Im Juni 2020 trat ein Referent des ZMD auf einer Veranstaltung der Linksfraktion auf. Wie passt das zusammen, wenn Ulla Jelpke, Bundestagsabgeordnete der Linksfraktion von der Bundesregierung fordert, "jede auch indirekte Zusammenarbeit mit dieser faschistischen Vereinigung zu beenden...(gemeint ist Atib, Anm. d. A.) Das betreffe ebenso Kooperationen mit dem Zentralrat der Muslime, solange sich dieser nicht von Atib distanziere".

Fazit

Man muss sich genau anschauen, welche Organisation hinter einem Bewerber auf ein politisches Mandat steht, oder mit wem man sich an einen Tisch setzt, denn die Person handelt im Sinne seiner Organisation, möge sie noch so gut den modernen Diskurs beherrschen. Gewiss kann es sein, dass man zufällig an einer Versammlung teilnimmt, an der auch fragwürdige Vertreter teilnehmen.

Aber das kann man geraderücken, indem man sich von ihnen distanziert. Wenn eine Moschee allerdings einen Salafisten oder einen Vertreter der Muslimbruderschaft in seine Gemeinde aktiv einlädt, um über die islamische Lehre vor den Gläubigen zu sprechen, ist das kein Zufall, sondern gewollt. Die Imame wissen sehr genau, wen sie aus der islamischen Gemeinschaft vor sich haben.

In der islamischen Szene kennt jeder jeden. Und wenn es da mal "aus Versehen" zu einem Kontakt mit Islamisten kam, mit denen man nichts zu tun haben will, gäbe es immer noch die Möglichkeit, sich zu entschuldigen und mit einer inhaltlichen Stellungnahme zu distanzieren. Diese Praxis ist aber weder bei Ditib, der Islam Föderation, dem Zentralrat der Muslime noch der Gülen-Organisationen zu erkennen.