Der türkische Scherbenhaufen

Debatte über Aufkündigung des Montreux-Abkommens, die Annäherung an die Ukraine, Währung und Aktienmärkte stürzen immer weiter ab. Hilft die EU?

Nachdem der türkische Präsident Tayyip Erdogan den Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt erklärt hatte, brachte nun der Parlamentssprecher Mustafa Sentop den Austritt aus der Konvention von Montreux und aus der Europäischen Menschenrechtskonvention in die Diskussion.

Zwar sei das derzeit nicht beabsichtigt, es sei aber jederzeit möglich. Diese Pläne kritisierten pensionierte Admiräle in einem Offenen Brief. Scharfe Kritik und Verhaftungen waren die Folge. Was man im Westen nicht zur Kenntnis nehmen will: Nun geht es nach der linken Opposition auch den säkularen Kemalisten an den Kragen.

Es ist an der Zeit ein altes Niemöller-Zitat zu "türkisieren": "Als die AKP/MHP die HDPler verhaftete, habe ich geschwiegen; ich war ja kein HDPler. Als sie die oppositionellen Journalisten verhaftete, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Journalist. Als sie die Kurden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kurde. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte."

Was ist passiert?

103 pensionierte Admiräle wandten sich in einem offenen Brief an Erdogan. Sie argumentierten gegen seine Pläne eines neuen Kanals, der das Marmarameer mit dem Schwarzen Meer verbinden soll: Dieser Kanal käme einem Ausstieg aus der Konvention von Montreux gleich. Die Konvention von Montreux aus dem Jahr 1936 regelt den freien Schifffahrtsverkehr durch den Bosporus und die Dardanellen.

Sie zählt mit dem Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923, der die Grenzen der Türkei festlegt, zu den Gründungsdokumenten der Republik Türkei. Auch den Lausanner Vertrag stellten Erdogan und führende AKP-Politiker bereits mehrfach in Frage, indem sie die Grenzen des Osmanischen Reiches als die eigentlichen Grenzen der Türkei ins Spiel brachten.

Das geplante Megaprojekt "Kanal Istanbul" sieht einen neuen Wasserweg parallel zum Bosporus vor. Dieses Prestigeobjekt Erdogans soll bei einer Bauzeit von fünf Jahren rund acht Milliarden Euro kosten, andere schätzen die Kosten auf mehr als 14 Milliarden. Im Gegensatz zum Bosporus soll das Befahren dieses Kanals aber gebührenpflichtig werden. Dies würde jedoch gegen die Konvention von Montreux verstoßen.

Auch Umweltschutzverbände kritisieren das Projekt, da ihm Waldbestände in der Größe von zwanzig Fußballfeldern am Rande von Istanbul zum Opfer fallen würden. Zudem würde der Kanal die Route der Zugvögel stören, die in dieser Region Rast machen und er würde die Wasserversorgung Istanbuls gefährden.

Die türkische Regierung reagierte auf den Offenen Brief der Admiräle, den diese dem säkularen, konservativen Mediennetzwerk Veryansin zuspielten, mit unerwarteter Schärfe. Nach einem Bericht der FAZ enthielt der Offene Brief, aber nicht nur eine Kritik am Kanalprojekt: Die "Unterzeichner mahnten auch, den Pfad Atatürks nicht zu verlassen und den Laizismus als Gründungsprinzip der Republik nicht aufzugeben."

Ihre Kritik richtete sich vor allem gegen den zunehmenden Einfluss eines fundamentalistischen islamischen Ordens, der auch zum Ausstieg aus der Istanbul Konvention drängte. Die Unterzeichner des Offenen Briefes sind beileibe keine linken Oppositionellen. Sie gehören vielmehr den konservativen, nationalistischen Kemalisten an, die die expansive Politik der Regierung im östlichen Mittelmeer unterstützen.

Einer der Unterzeichner ist nach Angaben der Zeit Cem Gürdeniz, einer der angesehensten türkischen Marinekommandanten. Er gilt als Urheber der umstrittenen Militärdoktrin "Blaue Heimat" (türk.: Mavi Vatan), welche die Ausdehnung der türkischen Souveränität über große Gebiete des östlichen Mittelmeers vorsieht.

Parlamentssprecher Sentop unterstellte den Unterzeichnern, im Auftrag der islamischen Gülen-Bewegung zu handeln, die die AKP-Regierung für den vermeintlichen Putschversuch verantwortlich macht. Allerdings, so schreibt die FAZ, seien die "meisten Unterzeichner von 2011 bis 2013 bei den sogenannten Ergenekon- und Balyoz-Prozessen zu teilweise langen Haftstrafen verurteilt worden" - also von Richtern, die Fetullah Gülen nahestanden, der bis dahin ein enger Verbündeter Erdogans Erdogans war.

Am Ostermontag wurden gegen 14 Unterzeichner Haftbefehle wegen einer "Verschwörung gegen die Sicherheit des Staates und der verfassungsgemäßen Ordnung" erlassen. Erdogan warf ihnen eine indirekte Drohung mit einem Staatsstreich vor.

Was von kemalistischer, konservativer Seite als wohlwollende Warnung vor dem eingeschlagenen Kurs der Regierung gemeint war, wurde von der Regierung als Putsch-Drohung umgedeutet. Denn längst hat sich Erdogan von den Zielen des Republikgründers Atatürk abgewandt. Sein Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun twitterte an die Adresse der Unterzeichner: "Bleibt, wo ihr seid! Diese Türkei gehört der Vergangenheit an."

Auch ehemalige Botschafter warnten, denn mit der Aufkündigung des Montreux-Abkommens, könnten die USA über die türkischen Meerengen Russland angreifen oder auf Seiten der Ukraine gegen Russland agieren. Das Montreux-Abkommen verbietet es nämlich, dass sich Kriegsschiffe von Nicht-Anrainerstaaten länger als 21 Tage im Schwarzen Meer aufhalten dürfen.

Selenski in Istanbul

Die jüngsten Angebote Erdogans an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski zeigen, dass solche Sorgen nicht ganz unbegründet sind. Am vergangenen Samstag empfing Erdogan in Istanbul den ukrainischen Präsidenten. In dem dreistündigen Treffen sicherte Erdogan ihm angesichts russischer Truppenbewegungen nahe der Ukraine "jegliche Unterstützung von Friedensbemühungen zu."

Wie die Unterstützung aussehen soll, wurde nicht bekannt. Allerdings dürfte dies die Differenzen zwischen Russland und der Türkei verschärfen.

Die Türkei ist politisch und wirtschaftlich ein Scherbenhaufen

Der Vorsitzende der kemalistischen CHP, Kilicdaroglu warf Erdogan vor, die Kritik der Admiräle zu benutzen, um von der desaströsen wirtschaftlichen Lage abzulenken: Währung und Aktienmärkte stürzen immer mehr ab, die Geldentwertung ist extrem hoch, die Arbeitslosigkeit steht bei 12 Prozent. Dabei dürften die offiziellen Zahlen das wahre Ausmaß nicht wiedergeben. Der CHP-Chef fragt auch, wo denn 128 Milliarden Dollar Devisenreserven der Zentralbank geblieben seien.

Kilicdaroglu fordert vom neuen Präsidenten der Zentralbank eine Untersuchung des Vorgangs. Eine CHP-Politikerin stellte dazu eine Anfrage im Parlament, die CHP plakatierte in Mudanya die Frage "Wo sind 128 Milliarden Dollar geblieben?"

Postwendend wurden die Plakate von den Behörden entfernt. Der Vorsitzende der Kommission für staatliche Unternehmen nannte die Frage eine Verleumdungskampagne und versuchte sich in (wenig überzeugenden) Erklärungen.

Vor kurzem entließ Erdogan den Zentralbankchef Naci Agbal, nachdem dieser gegen den Willen Erdogans die Zinsen erhöht hatte. In der Woche nach dem Rauswurf Agbal sollen Anleger nach einer Analyse der Deutschen Bank bis zu einer Milliarde US-Dollar aus Aktien und 750 Millionen US-Dollar aus lokalen Anleihen aus der Türkei abgezogen haben. Wenige Tage später entließ er ohne Begründung auch Murat Cetinkaya, den stellvertretenden Vorsitzenden des siebenköpfigen Zentralbankrates. Einen Tag später verlor die Lira zweistellig an Wert gegenüber dem Dollar.

Kommt die Rettung aus Europa?

Der Besuch der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel könnte als Rettungsschirm für die Türkei verstanden werden. Trotz "Sofagate" dem (beabsichtigten?) Faux pas bei der Sitzordnung, bei dem die Kommissionspräsidentin auf Höhe des ihr untergeordneten türkischen Außenministers auf dem Sofa platziert wurde, kann Erdogan zufrieden sein.

"Im Gegenzug dafür, dass sich Erdogan etwa im östlichen Mittelmeerraum kooperativ verhält, winken Visa-Erleichterungen und erweiterte Zollunion," schreibt die Zeit. Das alles geschieht, obwohl die Türkei den Konflikt um die Gasvorräte vor Zypern selbst provozierte.

Martin Erdmann, Diplomat im Ruhestand, war von 2015 bis 2020 deutscher Botschafter in der Türkei. Er kritisiert wie viele andere Nahostexperten angesichts der Entwicklungen in der Türkei die EU-Politik. Das Land würde "zunehmend von dem autokratischen Arm des Präsidenten und Parteiführers der AKP, Recep Tayyip Erdogan, niedergedrückt und seiner Zukunft beraubt".

Man habe es mit einer konstitutionellen Autokratie zu tun. Erdmann zitiert zur Untermauerung seiner Analyse im Interview mit dem Tagesspiegel den amerikanischen Präsidenten Joe Biden. Dieser richtete vor dem EU-Besuch in Ankara folgenden Appell an den EU-Rat:

"Die Demokratien müssen die Verkehrsregeln in der Welt bestimmen, nicht die Autokratien."

Erdmann sagte dem Tagesspiegel, er war lange der Meinung, dass es richtig sei, mit Sanktionen gegenüber der Türkei zu warten. Aber die Türkei habe sich so weit von den Kopenhagener Kriterien, die die Basis für alle Beitrittskandidaten seien, weg entwickelt, dass man das nicht mehr ignorieren dürfe. Wenn die Kriterien nicht eingehalten werden, müsse das Konsequenzen haben. Sanktionen müssten "ad personam und sehr gezielt eingesetzt werden."

Also Sanktionen wie in Syrien gegen Assad und wichtige Akteure des Regimes in Syrien?

Erdogans Ping-Pong-Spiel

Diese Forderung steht schon lange im Raum, wird aber von der Bundesregierung und der EU ignoriert. Erdmann sieht einen Grund für den Schmusekurs in der Erpressbarkeit der EU. Ein Element sei das Flüchtlingsabkommen von 2016, das Erdogan immer wieder als Druckmittel einsetzt, indem er drohe, "die Schleusen zu öffnen". Ein weiteres Element sei, dass die Türkei "der einzige und letzte Stabilitätsanker in der Region" ist.

Wobei zu diskutieren wäre, inwieweit Deutschland und die EU-Politik an der destabilen Lage im Nahen und Mittleren Osten nicht eigene Anteile haben und damit die Türkei selbst in diese exponierte Lage gebracht haben.

Als drittes Element der Erpressbarkeit führt Erdmann das geschickte Ping-Pong-Spiel Erdogans im Verhältnis zu Russland und China auf der einen und Europa und der USA auf der anderen Seite an, indem er, wenn die eine Seite nicht kooperieren will, droht, zur anderen Seite zu wechseln.

Erdmann rät als Kenner der Türkei der Bundesregierung und der EU, nicht nur einseitig auf die türkische Regierung zu blicken, sondern vielmehr auf die Opposition zuzugehen. Man müsse auf "den Tag danach" schauen und eine Brücke in die Zukunft bauen. Es bleibt zu hoffen, dass seine Worte, wie die vieler Warner endlich gehört werden und Konsequenzen gezogen werden.