"Deutsche Krankheit" - Die Rentenschwindsucht
Kann man verordnen, den Lebensunterhalt im Alter einfach zu halbieren? Man kann - und mehr als das! Die Altersversorgung in Deutschland nimmt einen dramatischen Verlauf. Ebenso dramatisch ist die Nichtwahrnehmung dieser katastrophalen Entwicklung in der Öffentlichkeit
Die Dreistigkeit und Verlogenheit, mit denen Fakten in ihr Gegenteil verbogen werden, sind kaum zu übertreffen. Die systematische Gründlichkeit, mit der über sehr viele Jahre vorgegangen bzw. geplant wird, ist einzigartig in der Welt. Sie ist "Made in Germany" - wo denn sonst …
Die Fakten sind bedrückend
Das Rentenniveau befindet sich seit Mitte der siebziger Jahre auf einer Talfahrt, deren vorläufiges Ende durch die OECD für das Jahr 2061 vorausberechnet wurde. Das Nettoniveau wird dann von 73% auf 50% gesunken sein.1
In Netto-Rentenbeträgen ausgedrückt sieht die Entwicklung der Altersversorgung so aus: Wer in einem 45jährigen Arbeitsleben das gesellschaftliche Durchschnittseinkommen erhielt, das waren im Jahr 2018 etwa 2.000 € netto, der bekam dafür 1977 bei Renteneintritt eine Monatsrente von umgerechnet 1.460 €. Im Jahr 1998 waren es immerhin noch 1.406 €, 2018 sank die Rente dann auf 1.216 € und sie wird 2061 auf 1.010 € gefallen sein. Die verfügbare Rente wird also glatt auf die Hälfte des vorherigen Arbeitseinkommens zusammengestrichen worden sein.2
Kann man davon leben? Die Antwort ist wohl treffend: Es können davon sehr viele nur überleben, wenn sie ergänzende Sozialhilfe bekommen.
Zum Vergleich die Entwicklung des österreichischen Rentenniveaus, das bei Neueintritt durchgehend 92% beträgt/betragen wird und zu einer Nettorente von 1840 € führt.
Renten-Rachitis in Deutschland?
Die Rachitis wurde als "Englische Krankheit" benannt, weil in der englischen Industrie des Manchester-Kapitalismus viele Menschen, vor allem Kinder, wegen Unterversorgung an Erweichung und Verformungen im Knochenaufbau litten.
Als "Deutsche Krankheit" wird die Rentenschwindsucht in diesem Land bezeichnet werden können. Diese Krankheit ist gesellschaftlicher Natur und hat im Wesentlichen drei Erreger. Alle drei wurden durch den Bundestag kalkuliert mit Gesetzeskraft in die Welt gesetzt. Das erste Virus ist die Rentenformel zur Anpassung des aktuellen Rentenwerts (Riester- und Nachhaltigkeits-Dämpfungsfaktoren) aus den Jahren 2001 und 2004 - siehe auch: Weg mit der Rentenformel! Es gibt starke Alternativen …
Das zweite Virus ist die nachgelagerte Besteuerung, ebenfalls 2004 beschlossen als Alterseinkünftegesetz - siehe auch: Rentenschwindsucht durch die nachgelagerte Besteuerung.
Die Wirkung dieser beiden Schwindsuchtfaktoren ist in der obigen Grafik dargestellt, sie sind auch die Basis für die OECD-Berechnungen.
Der dritte Schwindsuchtfaktor
Es kommt aber noch ein drittes Virus hinzu. Das ist ein Multivirus, das durch viele kleine Mutationen seine Wirkung entfaltet. Und das funktioniert so:
Die oben beschriebene Rentenschwindsucht beschreibt die Entwicklung des Versorgungsniveaus von Eckrentnern. Das sind abhängig Beschäftigte, die 45 Jahre lang gearbeitet haben und dabei das gesellschaftliche Durchschnittseinkommen bekamen. Am Ende ihres Arbeitslebens haben sie 45 (Renten)Entgeltpunkte auf ihrem Rentenkonto. Gegenwärtig erreichen 62% der Rentnerinnen und Rentner diesen Standardwert nicht. Dieser Anteil wird sich in Zukunft erhöhen. Durch eine Vielzahl von Gesetzen hat der Gesetzgeber die Zahl der erreichbaren Entgeltpunkte systematisch reduziert:
• Für längerfristige Arbeitslose (ALG II-Empfänger) werden keinerlei Rentenpunkte mehr gut geschrieben (wie noch bei der Arbeitslosenhilfe bis 2000 - 80%, danach bis 2011 auf Null heruntergefahren).
• Für Niedriglohnempfänger werden seit 1992 keine Aufstockungspunkte mehr angerechnet.
• Für Ausbildungszeiten werden seit 2009 keine Entgeltpunkte mehr gut geschrieben, das waren bis 1996 noch 7 Jahre, die auf Null zusammengestrichen wurden.
• Die Hinterbliebenen-Anwartschaften (große Witwenrente) wurden von 60% auf 55% reduziert.
• Wer vor der Regelarbeitsgrenze in Rente geht, dem werden die bereits erworbenen Entgeltpunkte reduziert (0,3% pro Monat). Diese Abzüge werden mit der Erhöhung der Regelarbeitsgrenze auf 67 Jahre noch um einiges zunehmen.
• Zwangsverrentungen von ALG II-Empfängern ab 63. Sie werden mit entsprechenden Rentenpunktabschlägen zusätzlich bestraft.
• Hinzu kommt, dass die stark gestiegenen Mini-Job Arbeitsverhältnisse keine bis äußerst geringe Rentenanwartschaften erzielen.
• Generell sorgen prekäre Beschäftigungsverhältnisse (Niedriglöhne, Leiharbeit, Werkvertragsarbeit, Ketten-Praktika, sachgrundlose Befristungen…) dafür, dass nur sehr geringe Entgeltpunkte erworben werden.
• Von all diesen Maßnahmen sind viele in den aktuellen Rentenjahrgängen nicht oder nur teilweise betroffen. Die fatalen Wirkungen werden die künftigen Rentenjahrgänge in zunehmender Härte erfahren müssen.
Wie gesagt, diese Schwindsuchtfaktoren kommen noch auf die beiden ersten (Dämpfungsfaktoren und Besteuerungssteigerung) hinzu. Sie sind in ihrer Auswirkung schwer zu berechnen und bisher auch noch von niemandem konkret untersucht worden.
Die Rentenschwindsucht kann schnell gestoppt werden
Das deutsche System der undurchschaubar komplexen Rentenberechnung ist weltweit einmalig. Um zu sehen, wie es einfacher und transparenter geht, muss man gar nicht weit über den Tellerrand schauen. Politiker und Beamte - vor allem die hoch besoldeten Professoren mit dem Prädikat "Rentenexperten" - brauchen nur ihren eigenen Versorgungsteller betrachten:
Die Altersversorgungssysteme der Parlamentarier, der Beamten und der (aller) österreichischen Erwerbstätigen haben einen festen Prozentsatz von ihrem Einkommen als jährliche Anwartschaftssteigerung. Das sind stabile und verlässliche Rechengrößen, da sinkt nichts.
Wie bereits mehrfach berichtet haben im Juni 2020 die schleswig-holsteinischen Landtagsabgeordneten ein neues Versorgungswerk für sich beschlossen. 1,5% ihrer Grunddiäten (derzeit 8.877 €) werden ihnen pro Jahr als Pensionsanwartschaft garantiert. Das ist eine Größe, die für auskömmliche Renten für alle Erwerbstätigen in diesem Land sorgen kann (bei einer flankierenden Regelung über eine armutsverhindernde Mindestsicherung). Siehe auch: Die Brücke zur Erwerbstätigenversicherung - 1,5%!
Die "Deutsche Krankheit" hat Profiteure
Die Therapie könnte so einfach und transparent sein. Sie ist aber nicht gewollt, weil die Interessen der Versicherungen und der Finanzkonzerne einer Gesundung der gesetzlichen Rente diametral entgegenstehen. Sie haben derzeit etwa eine Billion Euro für private Alterssicherungen auf ihren Konten und machen damit prächtige Gewinne. Das Geschäftsfeld soll erweitert werden. Eine Billion Euro (nur in Deutschland), dafür lassen sich etliche Millionen für die politische "Landschaftspflege" locker machen. Die finanzierten Think Tanks, Lobbyisten, einschlägigen Politiker, "Wissenschaftler" und besonders engagierte Medienvertreter beherrschen offensichtlich Politik und öffentliche Wahrnehmung.
Letztes Beispiel sind die Ergebnisse der Rentenkommission "verlässlicher Generationenvertrag". Die lauten zusammengefasst: Stärkung der beiden Säulen der finanzmarktabhängigen Versicherungsprodukte (Riester- und "Betriebs"renten) und eine weitere Schwächung der gesetzlichen Rente. Siehe auch: Die Rentenkommission empfiehlt: Weiter so! - nur unauffälliger…
In Frankreich will die Regierung in den deutschen Weg der Altersversorgung einschwenken. Auch dort ist von Beitrags- und Leistungsbegrenzung, einer Umstellung auf ein Entgeltpunktesystem und einem stärkeren Einstig von Finanzinvestoren die Rede. Macron will dieses Rentensenkungsprogramm nach der Corona-Pause weiter durchziehen. Hoffentlich erlebt er nach dem aufständischen Winter einen heißen Herbst.
Und hoffentlich gelingt es dann in Deutschland, uns von dem französischen Widerstands-Virus infizieren zu lassen. Das Renten-Thema ist schon lange ein europäisches Thema. Black Rock, Allianz und Co. betreiben seit längerem Lobbyarbeit auf höchstem Niveau. Der Verordnungsentwurf über ein "Paneuropäisches Privates Pensionsprodukt" (PEPP) kursiert seit Juni 2019 in den zuständigen EU-Gremien (Aktien als Heilmittel gegen Altersarmut und gegen das sinkende Rentenniveau? und Die Party braucht neuen Stoff! - CSU und Merz als willige Dealer).