Deutsche und Russen: eine optimistische Tragödie

Seite 2: Nicht öfter küssen als zweimal pro Tag

Nikolai Gogol bewunderte die Deutschen als ein "zu tiefem ästhetischem Genuss veranlagtes Volk". Weniger bewundernd spricht derselbe Gogol an anderer Stelle vom "niederträchtigen Deutschland" als einem "übelriechenden Rülpser". Solche Volten legten auch andere wie Puschkin hin.

Viele russische Intellektuelle des 19. Jahrhunderts bereisten Deutschland. Göttingen war eine Adresse. Es wundert nicht, dass ihre schwärmerische Begeisterung für die deutsche Klassik und Romantik hart auf die Realität aufprallte und in Enttäuschung mündete. Die hielt meist auch nicht lange an.

Dass Wertungen ins Gegenteil umkippen, ist nicht allein Gogol anzulasten, sondern es ist ein Strukturmerkmal der Stereotypenbildung. Die Leitbegriffe erhalten sich über die Zeiten durch Anpassungsfähigkeit der Urteilsbildung etwa an wechselnde Ethnien, denen der Stempel aufgedrückt wird. A. Warburg spricht in Anlehnung an Schlagworte von Schlagbildern, die sich besser einprägen.

Die Verträglichkeit von These und Antithese unter einem Dach erwies sich auch am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Urteile der Bevölkerung über das Verhalten der sowjetischen Soldaten waren gespalten zwischen gewalttätig versus kinderlieb und unberechenbar versus hilfsbereit.

Die Stereotype können sich in ihrem harten Kern einkapseln, wieder auftauchen und mit geänderten Bedeutungen versehen werden. Sie werden für die jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse politisch instrumentalisiert. Durch Integration ihrer gegenteiligen Bedeutung erreichen sie größere Zielgruppen. Der "ewige Jude" wird je nach Propagandabedarf mal als (zu) stark, mal als schwach, mal als Kommunist, mal als Kapitalist oder als Slawe dargestellt. Das Vorurteilsreservoir greift weit nach Osten aus. Napoleon brachte es auf den Punkt:

Man kratze den Russen, und der Tatar kommt heraus.

Es liegt nahe, die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung slawischer Provenienz als propagandistische Pointe einer Entwicklung zum Totalitarismus zu deuten, der Staat, Volk und Führer (und in der panslawistischen Variante die Kirche) zu einem Organ verschmilzt. Die Ressentiments und Fantasmagorien des Volkes werden eingespannt für die Zwecke der Diktatur, wie sie zuvor schon bei der Entwicklung des Nationalismus insbesondere des 19. Jahrhunderts kriegstauglich gemacht worden waren.

Das ist jedoch nicht zwangsläufig. Wenn Vorurteile und Mythen an die jeweilige Region ihrer Entstehung gebunden sind und vorsichtig eingesetzt werden, bergen sie Humor und Witz, die von der Angst vor dem Anderen befreien können. Aus dem russischen Schatz an "Volksweisheiten" über die Deutschen seien einige aufs Geratewohl herausgegriffen:

  • Wenn das Brot teurer wird, legt der Russe eine Kopeke darauf. Der Deutsche isst weniger Brot.
  • Die Deutschen können alles, was wir nicht können. (J. Wosnessenskaja)
  • Der Deutsche hat für alles ein Werkzeug.
  • Die Deutschen sind gelehrter als wir, aber wir sind klüger. (A. Turgenew)
  • Der Deutsche kommt mit dem Verstand darauf, der Russe mit dem Auge.
  • Was für den Russen gesund ist, bringt dem Deutschen den Tod.
  • Den Deutschen prügeln – heißt, sich selbst auf die Wange zu schlagen.
  • "Seine Akkuratesse ging so weit, dass er sich vorgenommen hatte, seine Frau pro Tag nicht öfter als zweimal zu küssen, und um sie nicht doch mal zu oft zu küssen, tat er niemals mehr als einen Teelöffel Pfeffer in seine Suppe." (Gogol satirisch über einen deutschen Handwerker.)3
  • Der Teufel ist ein Deutscher auf dünnen Beinen. (Gogol)

Als Spottfigur von komischer Aussprache war "der Deutsche" auch dem Petruschka beigegeben, dem Kasper des traditionellen russischen Puppentheaters. Strawinsky vertonte das Sujet zu einer hinreißenden Ballettmusik.

Die holprige Aussprache gibt dem deutschrussischen Thema eine spezielle Note. Das Deutschenbild der Russen war von den Russlanddeutschen geprägt und wirkt als solches bis heute nach. Kurios wäre, wenn die Russlanddeutschen auch das Russenbild der Deutschen prägen.

Die Russlanddeutschen sind grob in zwei Gruppen zu unterteilen. Die eine rekrutierte sich aus bäuerlichen Siedlern, die dem Einladungsmanifest folgten, das Katharina die Große am 11. Juli 1763 erließ. Ihre "Peuplierungspolitik" zielte darauf, bestimmte Gebiete an der Wolga und am Schwarzen Meer mit Hilfe der Deutschen zu kolonisieren. Sie garantierte den Neu-Ankömmlingen Privilegien wie die Befreiung vom Militärdienst, Religions- und Steuerfreiheit.

Die natürlichen und wirtschaftlichen Bedingungen der Urbarmachung waren jedoch miserabel, und ihre Emigration entpuppte sich im 19./20. Jahrhundert als Leidensgeschichte mit dem Tiefpunkt von Hungersnöten, auf welche die Deportation nach Sibirien im Kriegsjahr 1941 folgte. Sie wurden der Kollaboration bezichtigt. Schon ab 1871 waren ihnen die Privilegien genommen worden. Die politische Stimmung war in Neid-Kampagnen umgeschlagen. Auf die Deutschen wurde Druck im Namen der Russifizierung und eines aggressiven Panslawismus ausgeübt.

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