Deutsche und Russen: eine optimistische Tragödie

Seite 3: Der Russe ist nicht russisch

Die zweite Gruppe Deutscher in Russland wäre im Kontext der Modernisierungspolitik Peters des Großen im 18. Jahrhundert zu definieren. Ihre Erwerbstätigkeit konzentrierte sich auf die Städte, vor allem Sankt Petersburg und Moskau.

Das berufliche Spektrum reichte von Handwerkern über Ingenieure, Wissenschaftler und Ärzte bis zu Regierungsbeamten und Offizieren. Die Offizierstätigkeit wurde jedoch zum Bumerang. Mit dem Ersten Weltkrieg wurde ihnen Kollaboration vorgeworfen.

Die deutsche Großindustrie mischte beim wirtschaftlichen Aufbau des Landes im 19. Jahrhundert mit, darunter Siemens und BASF. Zwischen Technik, etwa dem Ausbau der Eisenbahn, und Finanzkapital stiegen deutsche Unternehmer zu den Oligarchen von damals auf.

Heinrich Schliemann machte ein Vermögen im (damaligen) Krimkrieg. Er schreckte vor zwielichtigen Geschäften nicht zurück. Der Zar verlieh ihm die russische Staatsbürgerschaft. Das beflügelte seine Geschäfte. 1864 wechselte er in die Archäologie.

Deutsche Unternehmer, die in die russische Nomenklatura aufsteigen, philisterhafte Handwerker, gedemütigte Siedler, aber auch Badereisende im (deutschen) Land der "systematischen Schwärmerei" – welche Figur passt nun ins Bild der Russen von den Deutschen und umgekehrt?

Nach 1945 wurden die entlassenen deutschen Kriegsgefangenen von der einheimischen Bevölkerung mit Russen identifiziert. Die zerlumpten und ausgemergelten Gestalten bestätigten den Eindruck, den man ohnehin schon hatte.

Das wiederholte sich bei den Spätaussiedlern zur Zeit der Perestroika. Für die Betroffenen war und ist es schwer, gegen das Russen-Image anzugehen. Es ist ihnen "verpasst" wie ein Brett vor dem Kopf. Ein anderer Typus war im Berlin der Zwanzigerjahre aufgetreten.

Intellektuelle und Künstler wichen vor dem Gulag in die Emigration aus und bildeten in Berlin oder Paris ihre Zirkel. Heute wieder? Heute spricht man von Szenen. Der Spiegel, den man sich wechselseitig vor Augen hält, ist in Fragmente zersprungen.

Hier die geduldige russische Seele, die den unendlichen Weiten der Ebene entspricht, die schneebedeckte Tundra, auf der eine Troika mit Glockengeläut vorbeiläuft, angetrieben von einem gutmütigen Kutscher. Dort Richard Wagners Opern, die die Gefühle und nicht den Intellekt ansprechen – hier das Wolgalied und die Donkosaken, die zu Tränen rühren.

Manfred Koch-Hillebrecht

Beide Völker halten sich ihre Seele zugute und schürfen beim jeweils anderen nach Elementen der Bereicherung der eigenen Seele. Tote Seelen waren in Gogols gleichnamigem Roman sogar käuflich, aber sieht man einmal von diesem materialistischen Zug ab, scheint vor allem die russische Seele zu gefühlsduseliger Folklore auszuarten, und das wiederum in der Vorstellungswelt der Deutschen. Die sich um diese Seele rankenden Klischees hat Friedrich Hollaender unübertrefflich in seinem Songtext "Stroganoff" aufs Korn genommen. Eine kongeniale Interpretin ist Helen Vita.

Der Text stellt sich der Frage: Was ist "echt russisch"? "Der Russe" ist nicht russisch, sondern er ist ein Konstrukt, in dem der bestimmte und der unbestimmte Artikel zusammenfallen. Auf einmal steht einer für alle. Dieser eine ist eine schemenhafte Figur, in die alle Vorstellungen und Emotionen, Bewunderung und Hass, eingraviert werden können. "Der Russe" ist eine Maske. Die einfache Konstruktion ist der erste Schritt zum Rassismus. Von da gibt es kein Zurück zur Vernunft.

Wird die Maske abgerissen, können an die Stelle des "Russen" auch andere Figuren mit Fremdheitsaura treten. Ähnlich verläuft die Logik auf russischer Seite: Die Wörter für "Deutscher" und für "Fremdling" sind vom gleichen Stamm.

Das Grundmuster der Russophobie unterscheidet sich kaum vom Antisemitismus. Nur eine östliche Komponente kommt hinzu, ist aber auch nichts als die Neuauflage von Altbekanntem. Die Nazi-Propaganda zeichnete das Schreckensbild einer Ratteninvasion aus dem Osten und nahm es als Gleichnis einer "moskowitisch-asiatischen Überschwemmung". Juden, Polen und mongolische Tataren drehten mit am Rad der "Weltverschwörung".

Was Ende des 19. Jahrhunderts scheinbar harmlos als ein den Nationalismus und Imperialismus begleitender Rassismus begonnen hatte, endete in der Vernichtungskriegsmaschinerie, die ganz Osteuropa überzog.

Das deutsch-russische Verhältnis ist bis heute von Furcht und Faszination gekennzeichnet. Darunter gemischt sind Neidkomplexe. Das kann in das Bild zweier gegensätzlicher Freunde übertragen werden, die sich abwechselnd prügeln und versöhnen. Häufig ging die "Versöhnung" auf Kosten Kleinerer wie Polen

Die Mischung aus Abgrenzung und Umarmung hatte in den deutsch-russischen Beziehungen sogar eine verwandtschaftliche Basis. Das komplizierte Verhältnis zwischen Wilhelm II. und Nikolaus II. verhinderte jedoch nicht den Ersten Weltkrieg, im Gegenteil. Die Zwanghaftigkeit verwandtschaftlicher Beziehungen sorgte für eine Zwangsläufigkeit der Ereignisse.

Um sich daraus zu lösen, pocht Lew Kopelew lieber auf "Wahlverwandtschaft" zwischen beiden Ländern. In dieser emanzipierten Form von Verwandtschaft hat jeder das Privileg, seine Besonderheiten zu bewahren, wie er auch diejenigen des Anderen anerkennt. Mit Hilfe der Künste und der Literatur ließe sich daraus das kulturell Gemeinsame entwickeln, das nicht zu fern und nicht zu nah ist. Rückschläge inbegriffen.

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