Deutsche und Russen: eine optimistische Tragödie

Ilya Repin: Iwan der Schreckliche und sein Sohn. Vorstudie (Die Stiefel des Zaren) 1883. Bild: Tretjakow-Galerie / Public Domain

Sie prügeln und sie versöhnen sich. Wenn Deutschland und Russland sich näherkamen, kam meist etwas dazwischen. Dazwischen standen auch die Russlanddeutschen.

Ein US-Amerikaner möchte sich das seltsame Land der Bolschewiki anschauen, über das er so viel in US-Zeitungen gelesen hat. Er ist "gebrieft" mit Pressematerial, das ihm die Bolschewisten als Wilde in zottigen Pelzen und bis an die Zähne bewaffnete Meuchelmörder zeigt.

Der sowjetische Stummfilm Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki von 1924 schildert die Erlebnisse des US-Amerikaners in Moskau. Ihm widerfährt das, was er sich angelesen hat. Nur sind die furchteinflößenden Gräuel der kommunistischen Barbaren Teil einer Inszenierung, die ihm eine Bande von Kleinganoven vorgaukelt, um ihn ausnehmen zu können. Die Satire ist mit Slapsticks und Verfolgungsrennen gespickt.

Die passende Losung zum Film stammt schon aus dem Jahr 1848: "Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus." Mit diesem Satz beginnt das Manifest der Kommunistischen Partei. Klingt dramatisch, ist aber Schnee von gestern, seit der Kommunismus eines Marx und Engels zerbröselt ist. Zur Beruhigung besteht jedoch kein Anlass. Zieht man vom Zitat der beiden Vordenker den "Kommunismus" ab, bleibt immer noch das Gespenst übrig.

Deutsche und Russen: eine optimistische Tragödie (10 Bilder)

Hochzeit des Zaren Nikolaus II. mit Alexandra Feodorovna, 1894. Bild: Eremitage Museum / Public Domain

Das Unheimliche kann sich an viele Gegenstände und Begriffe anheften. Es springt über. So käme die einfache Reihe Kommunistenangst – Russenangst – Judenangst heraus. Fehlt noch: Türkenangst. Mit Brecht könnte formuliert werden: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch. Der Untergrund der Ängste ist beständig und jederzeit aktivierbar. Auf Perestroika und Tauwetter ist kein Verlass. Russophilie und Russophobie sind zwei Seiten einer Medaille.

Die russischen Stämme sind Halbasiaten. Ihr Geist ist unselbständig. Wahrheitssinn wird durch blinden Glauben ersetzt, Forschungstrieb mangelt ihnen. Kriecherei, Bestechlichkeit, Unreinlichkeit sind echt asiatische Eigenschaften.

Aus: Seydlitz, dem Geographieschulbuch, 1908

Die Schilderung wäre um Bilder von bärtigen, nomadisierenden Männern zu ergänzen, die die Wälder Sibiriens unsicher machen, sofern sie nicht durch die langen Winter zur "Handelstüchtigkeit", sprich: Hausierertätigkeit angeregt werden. Eine Verwechslung der schaurig-unsicheren Wälder mit Tacitus' Beschreibung Germaniens wäre rein zufällig.

Den deutsch-russischen Beziehungen wurde der Stempel einer Freundschaft aufgedrückt, die seit Langem so eng ist, dass Rivalität nicht ausbleibt. Zum Glück wurde der Wettstreit meist auf kulturellem Gelände ausgetragen. Wer hat mehr Kultur? Die Deutschen beanspruchten die Kulturhoheit für sich, indem sie ganz einfach die russisch-slawische Barbarei in den Vordergrund schoben.

Die liberale deutsche Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts sah sich in ihren demokratischen Sehnsüchten ge- und enttäuscht und projizierte das Scheitern auf Russland. Das wurde zum finsteren Reich der Despotie auserkoren, einem fast schon ewigen Schicksal des Landes. Die Kritik an den fortschrittsfeindlichen russischen Verhältnissen steigerte sich zu Hass. So kam es zur Ermordung Kotzebues.

Die deutsche Sichtweise auf das Russland des 18. und 19. Jahrhunderts ist von einer Ambivalenz aus Kultur und Despotie durchsetzt. Die Mischung wurde in der literarischen Welt Deutschlands Ende des 19. Jahrhunderts, als die Rezeption der russischen Schriftsteller Schule machte, durchaus goutiert. "Das enge Nebeneinander der Vorstellungen von finsterer Despotie und fanatischen Terroristen einerseits und einer hochdifferenzierten Kultur andererseits erzeugte eine Spannung eigener Art."1

Vice versa trat diese Ambivalenz auch auf der russischen Seite auf. Als Deutschland sich im Krieg gegen Frankreich (1870/71) und danach immer imperialer gerierte, kam aus Russland der Vorwurf, Deutschland kündige die Zivilisation auf. Aber von russischen Gelehrten und Gebildeten wurde – das bessere – Deutschland unter Berufung auf Heine und Börne in Schutz genommen. Wollten Heine und Börne "etwa Deutschland mächtig sehen, damit es sich mit der Belagerung von Paris und dem Morden an den Franzosen mit Schande bedecke?"2

Die gängigsten und eingängigsten unter den deutsch-russischen Vorurteilen sind Gegensatzpaare. Die Deutschen gelten in den Augen der Russen als fleißig, pflichtbewusst und diszipliniert, als sauber und aufrichtig. Hinzu kommen Spießbürgerlichkeit und Geiz.

Umgekehrt bescheinigen die Deutschen den Russen, faul und heimtückisch, unterwürfig und brutal, trunksüchtig und schmutzig zu sein. Mildernd kommt eine an Verschwendung grenzende Großzügigkeit hinzu. Die Testate schwanken in ihrer Intensität, sind jedoch zeitlos. Die Ressentiments sind widerstandsfähig gegen bessere Einsicht.

Die Ketten aus Gegensätzen ließen sich ins Unendliche fortsetzen. Ihre vermeintliche Einfachheit hat es in sich. Wer würde heute im rationalen Urteil jenen Stereotypen noch eine Geltung zuerkennen? Doch gerade die Marginalisierung des Bedeutungsgehalts jener Begriffe, ihre vermeintliche Harmlosigkeit überdeckt, dass "ein Körnchen Wahrheit" sich nicht wegrationalisieren lässt. Wie die Römer sagten: Etwas bleibt immer hängen.

Noch undurchsichtiger wird es beim Verhältnis von Selbst- und Fremdzuschreibung. Die Attribute, welche die Deutschen den Russen anhängen, sind überwiegend herabsetzend. Faul, schmutzig und versoffen – so lautet die Negation des westlichen Selbstbildes aus Pflichtbewusstsein, Sauberkeit und Ehrlichkeit.

Nun wird klar, dass die Zuschreibungen spiegelbildlich sind. Wer anderen anrüchige Eigenschaften anhängt, redet über sich selbst. Die Projektion auf Andere, die der Abwehr der ungewollten Bestandteile des Eigenen dient, versieht im Laufe der Verdrängung das Ungewollte mit negativen Kennzeichen.

Das trifft nicht nur individualpsychologisch zu, sondern auch auf das Nationbuilding: "In den Vorstellungen, die man sich von einer anderen Nation macht, steckt indirekt Wesentliches vom nationalen Selbstbild". Das Bild rundet sich, wenn von der russischen Warte aus betrachtet: Das Selbstbild der gebildeten Russen schärfte sich am Bild der Deutschen, auch in der Abgrenzung.

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