Deutscher Nahostdiskurs: Zwischen Diffamierung und Realitätsverlust

Nach Corona und Ukraine-Krieg spaltet der Nahostkonflikt Deutschland weiter. Zwischen klischeehafter Schwarz-Weiß-Malerei und dem Tabu kritischer Fragen. Ein Essay.

Nach der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg erleben wir derzeit im Zuge des Nahost-Konflikts eine neue Debatte, in der die Gesellschaft in zwei Lager von Gut und Böse, Falsch und Richtig, Freund und Feind, Wahrheitsvertreter und Ketzer gespalten wird.

Im Fall Corona werden Kritiker als "Corona-Leugner", "Antidemokraten" und "Nazis" beschimpft, im Fall des Ukraine-Krieges als "Putinversteher", "Lumpenpazifisten" oder "Eskalationsphobiker", im Kontext des Nahostkonfliktes ist von "Israelhassern" und "selbsthassenden Juden" die Rede und die in Deutschland schärfste Keule der Diffamierung wird geschwungen: der Vorwurf des Antisemitismus.

Mit solchen Begriffen wird den durch sie erzeugten "Feinden" ein Wille zum Bösen unterstellt und es werden ihnen geteilte Werte und die Fähigkeit zur Einsicht in das Richtige und Gute abgesprochen. Kurz: Sie werden pauschal dämonisiert, herabgewürdigt und im schlimmsten Fall entmenschlicht.

Zugleich wird damit eine scheinbare absolute Wahrheit des Guten und Richtigen und eine Logik des Entweder-oder etabliert.

So beharrt die deutsche Regierung in Bezug auf den Krieg in Gaza darauf, dass die israelische Seite dem "Recht auf Selbstverteidigung" folge und eine Demokratie sei, während die Hamas "böse" und eine "Terrororganisation" sei, die "barbarische" Verbrechen begehe und sich außerhalb des Rechts bewege.

Aus palästinensischer Perspektive könnte man jedoch ebenfalls vom Recht auf Selbstverteidigung oder Widerstand gegen ein Besatzungsregime und fortgesetzten Rechtsbruch Israels sprechen sowie Flächenbombardements mit dem Adjektiv "barbarisch" versehen. Und es ist möglich, dass beides richtig (oder falsch) ist.

Genauso ist es möglich, dass sowohl das Handeln der israelischen Regierung als auch der Hamas moralisch und juristisch zu verurteilen ist und dass man für Frieden für die israelische und die palästinensische Bevölkerung sein kann.

Die Logik des Entweder-oder exkludiert solche Schlüsse jedoch und verhindert damit die Erkenntnismöglichkeit der Wirklichkeit und eine moralisch vertretbare Lösung des Konflikts.

Mit der Logik des Entweder-oder und dem Verbot eines "Aber" – welches die Verbrechen der Hamas "relativiere" – wurde im Spiegel des "Bösen" der Hamas im deutschen Diskurs ein Bild von der israelischen Regierung als den "Guten" geschaffen.

Es darf jedoch vermutet werden, dass kaum einer der "proisraelischen" deutschen Kommentatoren die politischen Überzeugungen der israelischen Regierung teilt. Wider die den Blick auf die Wirklichkeit versperrende Logik des Entweder-oder ist ein realistischer Blick auf die israelische Regierung sowie realistische Optionen für eine Lösung des Konflikts vonnöten.

Der israelische Oppositionsführer und ehemalige Außenminister und Ministerpräsident, Yair Lapid, sagte in Bezug auf die amtierende Regierungskoalition:

Ich schäme mich, dass Rassismus zur offiziellen Politik des Staates Israel geworden ist.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung schrieb zum Ergebnis der Wahl im November 2022, dass dieses den Grundstein für die Bildung einer Regierung lege, die schlimmstenfalls durch drei R-Attribute gekennzeichnet werden könne: "religiös, rechtsextrem und rassistisch".

Gewarnt wurde, dass mit den zukünftigen Ministern Smotrich und Ben Gvir, welche ihren Rassismus nur zu "kaschieren" versuchten, eine Eskalationsspirale im Nahostkonflikt in Gang gesetzt werden könnte.

Der rechte Flügel der israelischen Regierung

Smotrich und Ben Gvir waren bei der Wahl 2022 mit ihren jeweiligen Parteien als gemeinsame Liste "Der Religiöse Zionismus" angetreten, wurden mit 10,84 Prozent zur drittstärksten Kraft und mit sechs Ministern im Kabinett von Netanjahu an der Regierung beteiligt. Der radikale Siedler und amtierende Finanzminister Bezalel Smotrich ist "stolzer Homophober", möchte das Rechtssystem der Thora wiederherstellen und erklärte, dass es kein "palästinensisches Volk" gäbe.

Die Blaupause seiner politischen Ziele und Überzeugungen veröffentlichte er im Mai 2017 als den "entscheidenden Plan" und die entscheidende "Eine Hoffnung" für Israel.

Darin heißt es, die Zweistaatenlösung sei von der Linken in der Vergangenheit "als realistische und sogar einzige Lösung vermarktet" worden, obwohl dies nie der Fall gewesen sei. Es sei es an der Zeit, einen Plan auszuprobieren, der auf einem "rechtsgerichteten, zionistischen und glaubensbasierten Ansatz" beruhe.

Erkannt werden müsse, dass man es mit zwei nationalen Bestrebungen zu tun habe, die nicht nebeneinander existieren könnten – zumal "die eigentliche Existenzberechtigung des palästinensischen ‚Volkes‘" darin bestehe, "das Existenzrecht des Staates Israel zu bestreiten".

Um "Frieden und Koexistenz zu erreichen", könne deshalb "ein arabisches Kollektiv mit nationalen Ambitionen nicht im Land Israel belassen" werden. Israel solle das Westjordanland weiter besiedeln und alles dafür tun, dass sich die Palästinenser von der Idee eines eigenen Staates verabschieden und zum Auswandern bewegt werden.

In der israelischen Presse gab es scharfe Kritik an Smotrichs Plan, es handle sich um ein beängstigendes und selbstmörderisches "Annexions-Apartheid-Programm", welches Ausdruck der "extremistischen, messianischen Vision" von Smotrich sei und für "ethnische Säuberung, Apartheid und Völkermord" plädiere.

Jenseits der Ideologie der religiösen Rechtsextremen in der derzeitigen Regierung muss aber konstatiert werden, dass auch Benjamin Netanjahu gezielt an der Verhinderung einer Zweistaatenlösung gearbeitet hat.

Folgt man zahlreichen Analysen und Berichten wie etwa von Richard C. Schneider im Spiegel, dann habe Netanjahu die Hamas seit Jahren unterstützt oder laut Aussagen eines einstigen Vertrauten gar insgeheim zu "Verbündeten" gemacht. Denn so habe jeder Versuch der Bildung einer Einheitsregierung von Mahmud Abbas mit dem Argument unterminiert werden können, Abbas wolle sich mit Terroristen verbünden.

Wie sähe aber eine realistische – und moralisch vertretbare – Option der Lösung des Konflikts aus?

Vom anderen Ende des politischen Spektrums in Israel kommend, hält auch der Mit-Herausgeber von Haaretz, Gideon Levy, eine Zweistaatenlösung aufgrund der bereits 700.000 israelischen Siedler im Westjordanland für keine realistische Möglichkeit mehr. Dass Israel eine Zweistaatenlösung wolle, sei seit mindestens 50 Jahren eine Lüge.

Stattdessen bliebe nur "Apartheid auf ewig" oder "ein demokratisches Israel" mit derzeit 7,5 Millionen Juden und 7,5 Millionen Muslimen. Dies wäre dann, wie Levy betont, jedoch nicht mehr ein "jüdischer Staat" – wie seit 2018 in der israelischen Verfassung verankert – und würde ein Ende des Zionismus bedeuten.

Zweistaatenlösung ist passé

Sowohl der rechtsradikale, religiöse Smotrich als auch der links-liberale Levy sprechen also eine unbequeme Wahrheit aus: Eine Zweistaatenlösung ist nicht mehr realistisch – und war dies vielleicht schon seit dem umstrittenen Teilungsplan der UN von 1947 oder spätestens seit der israelischen Eroberung des Westjordanlands im Sechstagekrieg 1967 nicht.

In den Korridoren der UN sei diese schon lange ein "Witz", sagt Craig Mokhiber, der aus Protest zurückgetretene Direktor des New Yorker Büros des Hohen Kommissars für Menschenrechte.

Realistisch betrachtet, bleiben somit nur vier Optionen: Vertreibung der Palästinenser oder "Apartheid auf ewig" (Plan Smotrich), Vertreibung der jüdischen Bevölkerung oder ein gemeinsamer demokratischer Staat von Juden und (allen) Palästinensern.

Letztere ist freilich die einzige Option, die normativ vertretbar ist. Doch das Drama ist, dass diese in das von Levy beschriebene Herz des Konflikts mündet: Eine dauerhafte Existenz des Judentums in Israel wäre in einem solchen Staat nicht garantiert. Dieses Risiko ist aus israelischer Perspektive der Jetztzeit (fast) nicht hinnehmbar.

Eine friedliche Lösung des Konflikts scheint somit momentan nur Utopie zu sein.

Doch kehren wir zum Ausgang des Arguments zurück: Soll überhaupt nur die (utopische) Möglichkeit für eine Lösung des Konflikts eröffnet werden, braucht es eine realistische Debatte – ohne Diffamierungen, Denkverbote und Cancel Culture. Die Utopie des Friedens kann nur Wirklichkeit werden, wenn wir die Möglichkeit der Erkenntnis der Wirklichkeit zulassen.

Statt der Logik des Entweder-oder und falschen Moralismus braucht es die Logik des Sowohl-als-Auch, eine Integration beider Perspektiven und das Fragen nach Kontext und Ursachen. Dass Letzteres zu einem Verbot erklärt und mit Verächtlichmachung und dem Absprechen von Moral und Integrität verbunden wurde, ist für eine sich aufgeklärt haltende Gesellschaft eine Ungeheuerlichkeit.

In der New York Times vom 10. November hat der israelische Professor für Holocaust- und Genozid Studien, Omer Bartov, nachdrücklich vor einem Genozid in Gaza gewarnt. Am 17. November folgten ihm 36 UN-Experten in einem dringlichen Appell.

Der israelische Präsident, Ministerpräsident, mehrere Minister und Militärs haben mehrfach offen genozidale Äußerungen getätigt. Dies gilt es endlich ernst zu nehmen.

Das Erzeugen von Feindbildern und die verbale Dehumanisierung einer Gruppe sind die Bedingung für die Durchsetzung von Krieg, Völkermord, Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung.

Auch für die Bundesregierung sollte es höchste Zeit sein, darauf hinzuwirken, dass es zu einem dauerhaften Waffenstillstand und Verhandlungen kommt. Die Verbrechen der NS-Diktatur dürfen niemals dazu missbraucht werden, Verbrechen zu rechtfertigen oder die Augen vor ihnen zu verschließen.

Wenn die Utopie eines demokratischen Staates Israel/Palästina Wirklichkeit werden soll, dann können dessen Grundlage nur die Menschenrechte sein. Und deren ganzer Sinn und Kern ist, dass sie bedingungslos für alle gelten.

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