Hölle von Gaza: Über das Schweigen der politischen und intellektuellen Klasse
Menschenrechtler und Israelis stützen den Apartheid-Vorwurf gegen Israels Staatsführung. Hierzulande gilt die These als antisemitisch. Essay über antiaufklärerische Diskurse.
Mit gewohnt selbstgewisser Nonchalance qualifizierte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach am 2. November in der Sendung von Markus Lanz die "Vorbehalte linker intellektueller Kreise", welche Israel der Apartheid bezichtigen, als "Fehleinschätzungen" ab.
Damit widersprach er zwar unter anderem bedeutenden Holocaust- und Antisemitismusforschern, Studien von Amnesty International, Human Rights Watch und der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem, dem Bericht des damaligen UN-Sonderberichterstatters zur Lage der Menschenrechte, Michael Lynk, dem ehemaligen israelischen Generalstaatsanwalt Michael Ben-Yair, dem ehemaligen Chef des Mossad, Tamir Pardo und dem Mitherausgeber von Haaretz Gideon Levy.
Dennoch konnte Lauterbach dies aufgrund der mangelnden journalistischen Kompetenz des Moderators und des leitmedialen Konsenses, demzufolge der Apartheid-Vorwurf falsch und antisemitisch sei, unwidersprochen ausführen
Damit steht diese Szene prototypisch für ein antiaufklärerisches und antidemokratisches Diskursniveau und -klima, innerhalb dessen eine "Kontextualisierung" des Nahost-Krieges in Deutschland derzeit als anrüchig, weil tendenziell oder vollständig antisemitisch gilt.
Dass sich deutsche Politiker, Journalisten und Intellektuelle aufgrund der deutschen Geschichte mit Kritik an der israelischen Regierung im Allgemeinen und insbesondere nach dem schrecklichen Massaker des 7. Oktobers schwertun, ist verständlich.
Doch wie schon in Bezug auf Corona und den Ukraine-Krieg kommt das derzeitige Diskursklima in Deutschland dabei einem Phänomen nahe, welches in den Rechtswissenschaften als "Abschreckungseffekt" bezeichnet wird.
Aus Angst vor negativen Konsequenzen halten Personen die öffentliche Äußerung ihrer Meinung zurück – oder werden wie jüngst Richard David Precht vom Kulturzentrum Kampnagel oder Jeremy Corbyn von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Volksbühne gecancelt.
Wollte ein Mitglied der Bundesregierung die Reaktion der israelischen Regierung auf die Massaker der Hamas kritisieren, muss vermutet werden, dass er oder sie medial massiver Kritik ausgesetzt wäre, infolgedessen zurücktreten müsste und eine Regierungskrise auslösen würde. Öffentliche Kritik an Israels Kriegspolitik ist für ein Mitglied der Bundesregierung also derzeit nur theoretisch möglich, faktisch aber quasi unmöglich.
Ähnlich verhält es sich für Intellektuelle oder sonstige Personen, die in einer breiteren Öffentlichkeit Gehör finden. Da diese in einem solchen Fall allerdings keine Staatskrise auslösen würden, wiegt die Billigung oder das weitestgehende Schweigen deutscher Intellektueller zur Kriegspolitik Israels schwerer.
Richtig und selbstverständlich ist, dass die Morde und Auslöschungsphantasien der Hamas verurteilt werden müssen und Antisemitismus und Islamismus deutlich entgegengetreten werden muss. Doch ebenso richtig ist, was die Schriftstellerin Deborah Feldman kürzlich eindrucksvoll auf den Punkt brachte: Die "einzige legitime Lehre des Holocausts" sei "die absolute, bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte für alle".
Nicht trotz, sondern gerade auch wegen des Holocausts kann – oder muss – man die Kriegspolitik der israelischen Regierung also verurteilen. Bereits jetzt ist Gaza zur Hölle auf Erden geworden, in der ganze Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht wurden, gnadenlos kritische Infrastrukturen zerstört und Krankenhäuser bombardiert wurden (18 von 35 Krankenhäusern in Gaza mussten zuletzt schließen), über eine Million Menschen vertrieben sind, keinen Zugang mehr zu sanitären Anlagen und Strom haben, sich Krankheiten verbreiten und etliche tausend Kinder akut von Hungertod und Verdursten bedroht sind.
Dieser mit äußerster Brutalität geführte Krieg mit, wie zu befürchten ist, am Ende zigtausend ermordeten Kindern und Zivilisten, Hunderttausenden Vertriebenen und Millionen Traumatisierten wird aller Wahrscheinlichkeit nach keinen dauerhaften Frieden, sondern eine Fortsetzung von Krieg, Gewalt und Terror bedeuten – wovor als eine der wenigen prominenten Stimmen in Europa auch der ehemalige französische Premierminister Dominique de Villepin im französischen Fernsehen jüngst mehrfach gewarnt hat.
So ist eine Kritik an Israels Kriegspolitik nicht nur aufgrund des schrecklichen Leids der palästinensischen Zivilbevölkerung mehr als geboten und gerechtfertigt, sondern auch im Hinblick auf die Sicherheit Israels und die Bekämpfung von Antisemitismus. Nicht nur die Hamas, Hisbollah und der Iran stellen eine Gefahr für die Sicherheit Israels dar, sondern auch die Regierung von Benjamin Netanyahu.
Wie der Psychoanalytiker Fritz B. Simon aus systemischer Perspektive schreibt, sei die Hamas "nicht durch Waffengewalt zu besiegen", "weil die Idee, Israel ins Meer zu werfen, auf diese Weise nicht aus der Welt zu schaffen" sei. Israel versuche, "die Repräsentanten einer Idee zu vernichten", schaffe aber gerade dadurch "neue Repräsentanten für diese Idee."
Statt mit Gewalt auf Gewalt zu reagieren und so in der Spirale der Gewalt und des Krieges gefangen zu bleiben, müsste die Strategie Israels darauf ausgerichtet sein, "den Widerstand gegen die Hamas unter den Palästinensern wahrscheinlicher zu machen bzw. die Opposition gegen sie zu stärken." Jetzt seien beide Parteien jedoch in einem "Muster der perversen Gegenseitigkeit", in einem autopoietischen, also sich selbst erhaltenden System des Krieges gefangen.
Wem an der Sicherheit Israels gelegen ist und wer sich gegen Antisemitismus einsetzen möchte, ist deshalb nachgerade dazu verpflichtet, auch das Handeln der israelischen Regierung zu kritisieren und sich für eine Beendigung des Krieges, ein Ende des Apartheid-Regimes und für Versöhnung auszusprechen.
Nicht jene, die eine solche Kritik äußern und sich für Frieden einsetzen, sondern all jene, die eine solche Kritik nicht äußern oder unter pauschalen Antisemitismusverdacht stellen, sind diejenigen, die – wenn auch unbeabsichtigt – Antisemitismus befördern und die Sicherheit Israels gefährden.
Die einfache wie komplizierte Wahrheit ist: Ohne ein Ende des Apartheid-Regimes und einen Aussöhnungsprozess wird es keine Sicherheit für Israel geben.
Während mir entgegen der leitmedial dauernd wiederholten, infamen Unterstellung keine öffentliche Äußerung von Belang bekannt ist, in der ernsthaft versucht wurde, das Massaker der Hamas zu "relativieren" oder gar zu rechtfertigen, ist in den deutschen Leitmedien unter Ausblendung ihrer Konsequenzen weiterhin eine unerträgliche Relativierung und Rechtfertigung der Kriegspolitik der israelischen Regierung vorherrschend.
Gelingt es deutschen Journalisten und Intellektuellen nicht, dazu nun endlich eine angemessene Berichterstattung und Sprache zu finden, werden sie aus der wohlmeinenden und berechtigten Verantwortung heraus, die uns aufgrund der Verbrechen der NS-Diktatur zukommt, zu passiven oder aktiven Mithelfern von Kriegsverbrechen – und schlimmstenfalls eines Genozids und einer weiteren kriegerischen Eskalation über Gaza hinaus.
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