Deutschland: Land mit posttraumatischer Belastungsstörung

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Corona, Krieg, Inflation, Klimawandel: Die Dauerkrisen hinterlassen tiefe Spuren in der psychischen Gesundheit der Menschen. Der Grad der Erschöpfung beunruhigt.

Kürzlich hieß es an dieser Stelle zu einer Imap-Umfrage: "Was für ein Land: Knapp drei Viertel der Deutschen haben, was ihre persönliche wirtschaftliche Lage betrifft, nichts zu klagen. 62 Prozent beurteilen sie als gut, 12 Prozent als sehr gut. Und doch sind sie sehr beunruhigt. 81 Prozent finden, dass die Verhältnisse derzeit in Deutschland eher Anlass zur Beunruhigung geben."

Aber nicht nur die Verhältnisse geben Anlass zur Beunruhigung, denn in Deutschland häufen sich die Untersuchungen zu verschiedenen Aspekten der psychischen Gesundheit der Bürger. Mit besorgniserregenden Ergebnissen.

Permanenter Bedrohungszustand

"Wir erkennen jetzt erst im vollen Umfang, wie ungeheuer kräftezehrend die drei Corona-Jahre gewesen sind," gibt der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann zu bedenken. Die Corona-Krise ging geradezu nahtlos in den Ukraine-Krieg über, Inflationskrise und starken Fluchtbewegungen.

Eine beruhigende Normalität scheint der Vergangenheit anzugehören. "Dadurch flammt das Ohnmachtsgefühl der Corona-Krise wieder auf. Dadurch leidet gleichsam die ganze Gesellschaft an einer posttraumatischen Belastungsstörung", konstatiert Hurrelmann.

Der Psychologe Winfried Rief von der Universität Marburg stellt fest:

Ich habe so etwas in meinem ganzen Leben - und ich bin jetzt 64 - noch nicht mitgemacht. Was es so schwierig macht, ist, dass wir auf der psychologischen Ressourcenseite mittlerweile extrem schwach sind. Wir haben in den letzten Jahren mit Corona eine lebensgefährliche Bedrohung mitgemacht und uns davon eigentlich nicht mehr erholt. Die Themen haben sich geändert, aber der Bedrohungszustand ist geblieben.

Winfried Rief, Berliner Zeitung

Überforderung und Rückzug ins Private

Bereits im Herbst 2021 hatte eine tiefenpsychologische Studie und eine repräsentative Befragung, die das rheingold Institut im Auftrag der Identity Foundation, einer gemeinnützigen Stiftung für Philosophie aus Düsseldorf, durchgeführt hat, Ergebnisse zutage geführt, die die aktuelle Entwicklung vorhersagen.

59 Prozent der Befragten fühlen sich demnach von den Krisenlagen der Gegenwart überfordert. Deshalb informieren sich – nach Selbsteinschätzung - nur noch 39 Prozent ausführlich über das Weltgeschehen. In der Pressemitteilung zur Studie heißt es:

Der Rückzug etwa der Hälfte der Bevölkerung in private Welten geht einher mit einer resignativen Haltung in Bezug auf die eigenen gesellschaftlichen Einwirkungsmöglichkeiten. "Den Deutschen gelingt die Maximierung ihrer Zuversicht durch die Minimierung ihres Gesichtskreises", kommentiert der Psychologe Stephan Grünewald, Studienleiter und Gründer des rheingold Instituts.

"Auf der Strecke bleiben durch diesen Umgang mit den Krisen gesellschaftliche Verantwortungsübernahme wie auch eine konstruktive Gesprächskultur."

Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit

Grünwald beschreibt die Situation gegenüber der Deutschen Presse-Agentur:

Das ist, als würde ein Verdrängungsvorhang heruntergelassen.

Stephan Grünewald

Bedenkliche Erschöpfung

Betrachtet man konkret die Entwicklung der psychischen Leiden, entdeckt man eine massive und besorgniserregende Zunahme über alle Altersstufen hinweg. Bei der erwerbstätigen Bevölkerung zeigt sich eine massive Steigerung der Krankheitstage aufgrund psychischer Leiden im Jahr 2021. Diese sind auf den Rekordwert von 126 Millionen gestiegen.

Eine kleine Anfrage der Linksfraktion ergab, dass Erkrankte auch immer länger ausfallen: Die durchschnittliche Abwesenheit lag 2020 noch rund 33 Tage. Ein Jahr später lag sie dann bei 48 Tagen, was einem Anstieg von 45 Prozent in nur einem Jahr entspricht.

Das Ausmaß von Burnout und Erschöpfung durch die Arbeit hat deutlich zugenommen, wie der Fehlzeiten-Report 2022 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK belegt:

Zwischen 2012 und 2021 haben sich die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund der Diagnosegruppe Z73 (was der Diagnose "Burnout" entspricht – A. W.) je 1.000 AOK-Mitglieder von 92,2 auf 141,8 Tage um mehr als 50 Prozent erhöht.

Fehlzeiten-Report 2022

Eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Beratungsunternehmens Auctority bestätigt das erschreckende Ergebnis.

Mehr als die Hälfte der Befragten bezeichnete sich als erschöpft. Jeder Zehnte gab an, extrem erschöpft zu sein. Arbeitspsychologin Christina Guthier, die die Umfrage wissenschaftlich begleitet hat, kommentiert:

Die Arbeitswelt ist unnötig erschöpfend – das sieht man unter anderem daran, dass es ab dem Rentenalter einen Knick gibt, hier sinkt der Erschöpfungswert drastisch. Gleichzeitig glaubt auch nur ein Viertel der Berufstätigen, ihre Erschöpfung wieder loswerden zu können. Das ist ein alarmierender Wert.

Christina Guthier

Gefragt nach möglichen Lösungsmaßnahmen wünschen sich jüngere Menschen (18 bis 29 Jahre) vor allem ein geringes Arbeitspensum. Bei den älteren lautet der Wunsch: weniger sinnlose Arbeit (40 Prozent. Bei Beamten sogar knapp zwei Drittel).

David Graebers Bullshit-Jobs lassen grüßen.

Ausgebrannt

Auch ein Blick auf die Studenten in Deutschland ist alarmierend, wie ein Report der Techniker Krankenkasse offenbart: Der allgemeine Gesundheitszustand hat sich gegenüber 2015 massiv verschlechtert.

Aber auch die psychische Gesundheit ist deutlich nach unten gegangen. Mehr als zwei Drittel der Studenten erleben aktuell Erschöpfung durch Stress.

Zum Vergleich: Im Jahr 2015 waren es nur 44 Prozent. Stresssymptome wie Konzentrationsstörungen oder Schlafprobleme haben sich in diesem Zeitraum fast verdoppelt. Etwa die Hälfte der Befragten klagt, dass sie "oft" oder "fast immer" müde seien. Ein Drittel der Studenten ist Burnout-gefährdet und jeder Siebte hat regelmäßig das Gefühl "Ich kann nicht mehr".

Wenig hilfreich für das psychische Gleichgewicht der Studenten ist dabei die zunehmende Digitalisierung des universitären Lebens. 71 Prozent gaben an weniger Sozialkontakte zu haben. 44 Prozent sind sicher, dies sei der Grund, dass sie sich einsamer fühlen. (Ungewollte Einsamkeit ist so gesundheitsschädigend wie 15 Zigaretten am Tag oder wie Alkoholmissbrauch und einer der häufigsten, vielleicht sogar die häufigste Todesursache.)

Depressiv

Depressionen sind über alle Altersstufen hinweg ein gravierendes Problem: Detlef Dietrich, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, konstatiert für die Corona-Jahre: "Wir verzeichnen eine 25-prozentige Zunahme an Depressionen und Angststörungen."

Dabei seien gerade 14- bis 18-Jährige deutlicher von Depression betroffen. Desweiteren: Nach Angaben der Kaufmännischen Krankenkasse sind die Diagnosen von wiederkehrenden Depressionen erschreckend stark angestiegen. Zwischen den Jahren 2011 bis 2021 um bundesweit rund 71 Prozent.

Laut Daten der TK wurden bei Studenten zwischen 2019 und 2022 37 Prozent mehr ADHS-Diagnosen erstellt. Bei Depressionen ist eine Erhöhung um gut 15 Prozent zu verzeichnen. Im selben Zeitraum wurden auch rund 30 Prozent mehr Antidepressiva verschrieben. Im Schnitt nehmen Studenten übrigens öfter Antidepressiva als Gleichaltrige in Erwerbsarbeit.

Insbesondere die Lage der Jugendlichen ist besorgniserregend. Der Kindergesundheitsbericht 2023 der Stiftung Kindergesundheit offenbart ein bedenkliches Bild.

Laut einer Auswertung der Krankenhausabrechnungen in den Kliniken kam es im Vergleich zu 2019 zu einem Anstieg von 21 Prozent bei Essstörungen und 2 Prozent bei selbstverletzendem Verhalten. Bei Depressionen sogar 43 Prozent.

Eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung belegt, dass Schulschließungen mit dem Anstieg von Depressionssymptomen bei Kindern und Jugendlichen im Zusammenhang stehen.

In einem europaweiten Vergleich wurden 22 Studien untersucht. Kinder und Jugendliche wiesen während der Schulschließungen zu 75 Prozent häufiger generelle Depressionssymptome als vor der Pandemie. (Im Vergleich erhöhte sich die Häufigkeit für solche Depressionssymptome im Zeitraum ohne Schulschließungen nur um 27 Prozent.)

Die Welt berichtet über diesen Zustand:

Ulrike Ravens-Sieberer, Psychologin vom Hamburger Universitätsklinikum, schließt aus diesen Zahlen, dass in der Coronazeit "eine Welle entstanden sei, die wir derzeit vor uns herschieben". Denn wohlgemerkt: Erfasst sind in diesen Studien immer nur die Kinder, die bereits ärztliche oder psychologische Hilfe erhalten haben. Überhaupt so weit zu kommen – das ist in Deutschland ein Problem für sich. Die von ihr genannte "Welle" bilden Kinder und Jugendliche, die noch auf einen Therapieplatz warten. Solche Plätze gibt es für die meisten, die es dringend brauchen würden, erstmal nicht. "Die Wartezeit liegt schon im ambulanten System bei sechs Monaten", sagt die Kinderpsychiaterin Katharina Bühren."

Die Welt

Scheinbares Desinteresse

Starker Anstieg an Erschöpfung, Burn-out, Depression und Angststörungen. Markante Zeichen für eine deutliche Verschlechterung der psychischen Gesundheit über alle Altersstufen hinweg und besonders bei Kindern sowie Jugendlichen sollten eigentlich alle Alarmsirenen bei der Regierung und dem Bundesgesundheitsministerium läuten lassen.

Die berichteten Erkrankungen können nicht einfach achselzuckend mit dem Stichwort "Corona" abgehakt werden, sondern erfordern Hilfe. Konkrete Hilfe. An dieser Stelle sei auch daran erinnert, dass psychische Erkrankungen Konsequenzen auf die Lebenserwartung haben. Diese ist beispielsweise bei depressiven Menschen erschreckenderweise um rund zehn Jahre verkürzt, wie Ulrich Hegerl von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe betont.

Neben konkreter Hilfe ist es auch dringend geboten, Maßnahmen einzuleiten, um den Ausbruch der Erkrankungen zu verhindern. Beispielsweise auch politisch endlich zu begreifen, dass der Mensch ein hoch soziales Wesen ist und Gemeinschaft sowie Verbundenheit zum Leben braucht, während ungewollte Einsamkeit – nachweisbar - tötet. (Social Distancing ist eben keine nebenwirkungsfreie Maßnahme).

Von konkreter Hilfe seitens der Politik gegen psychische Erkrankungen beziehungsweise extremen Belastungen und Maßnahmen zu deren Verhinderung ist leider weit und breit nicht wirklich viel zu sehen und das Thema fristet weiter ein Schattendasein.