"Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen"
Seite 3: Warum Krieg?
Natürlich stellen Bundeswehr und NATO die Lage gegenüber der Öffentlichkeit ganz anders dar. Wie gesagt, Defender Europe soll ja begleitend auch den Propagandakrieg (gegen russische oder antimilitaristische "Fake News", also gegen unerwünschte Informationen) üben, genauer gesagt: schon real führen. Denn hier ist seine erste Leistung zu nennen: die Einschwörung der Bevölkerung auf die Ideologie der Abschreckung. Während die eigene Seite alles dafür tut, atomare Kriegsführung als frei gewählte Eskalationsstufe gangbar zu machen, Möglichkeiten einer präventiven oder präemptiven Ausschaltung der gegnerischen Potenziale auszuloten und die Wirkungen eines Gegenschlages zu minimieren, sie idealer Weise auf Null zu bringen, wird dem Publikum weisgemacht, das alles diene der Kriegsverhinderung.
Diese Ideologie ist aber keine frei erfundene Lüge, sie stützt sich auf die Realität des modernen Staatenverkehrs. Wenn man der Frage nachgeht, warum es dauernd Kriege gibt, stößt man als Erstes auf den Sachverhalt, dass Staaten untereinander Benutzungsverhältnisse eingehen, also sich anerkennen, um sich wirtschaftlich zu bereichern: "Moderne Staaten leben nicht davon, fremde Territorien zu erobern, sondern davon, ein möglichst großes Wirtschaftswachstum zustande zu bringen. In diesem Sinne sind sie gewissermaßen friedfertiger als ihre vorbürgerlichen Vorgänger. Gleichzeitig sind sie allerdings erheblich anspruchsvoller, denn ihre Außen- und Geopolitik bezieht sich nicht mehr nur auf ihre Nachbarstaaten, sondern gleich auf die gesamte Welt."
Die friedlichen "Investitionen" in die "Globalisierung", die z.B. der DGB für das angemessene Benehmen auf internationaler Ebene hält, mögen so als das normale Verhältnis erscheinen, das möglichst ungestört seinen Fortgang nehmen soll, während Krieg als der Ausnahmezustand gilt. Dieser friedliche Verkehr hat nur den Nachteil, dass er alle Gründe produziert - beginnend mit der Scheidung von Gewinnern und Verlierern -, um eine oder beide Seiten zu dem Schluss kommen zu lassen, dass die Resultate dieser Benutzung nicht mehr auszuhalten sind und eine gewaltsame Korrektur verlangt ist.
Im Abschreckungsprogramm der USA ist die Kriegsplanung auf allen Eskalationsstufen als erfolgreich durchzustehende und frei verfügbare Option eingeschlossen. Zugleich ist darin das Ideal enthalten, dass die andere Seite von sich aus kapituliert, ohne dass es zum heißen Krieg kommt. Und dieses Ideal ist es auch, das in der US-Politik unter Trump beschworen wird, mit einer Selbstgefälligkeit die eigene Überlegenheit herausstellend und mit einer scheinbaren Friedfertigkeit, die auch auf Kriege verzichten kann. In der Tat, die Kriegsverhinderungsfunktion der Abschreckung könnte dadurch wahr werden, dass die russische Seite einfach kapituliert, dass sie ihre Hilflosigkeit zur Kenntnis und die Vernichtungsdrohung der anderen Seite schon als die eigene Niederlage ernst nimmt.
Trump scheut sich nicht - in seiner berechnend unkalkulierbaren Art -, diese Wirkung als gleichwertiges Ziel seiner Aufrüstung zu benennen: Er warnt nicht vor einem Rüstungswettlauf, wie in der guten alten Zeit des Kalten Kriegs üblich, sondern kündigt ihn stolz an. Das Totrüsten ist ja offizielles Programm, es wird um harte und immer weiter zugespitzte Sanktionen gegen Russland ergänzt, die die unmittelbare Schädigung der russischen Ökonomie zum Ziel haben - und auch einiges in dieser Hinsicht bewirken. Damit ist im Grunde der friedliche Zustand beendet; der Westen betreibt - natürlich unter der Regie der USA und mit deren Zurechtweisung, siehe Nord Stream 2, untergeordneter Mächte - bereits eine gewaltsame Auseinandersetzung, nämlich einen Wirtschaftskrieg.
Genau hier ist auch die Bedeutung von Defender Europe zu verorten: Das Manöver ist keine bloße Übung, sondern ein Schritt der Eskalation, bei dem sich Russland mit der Bedrohung durch fremde Mächte direkt vor seiner Haustüre konfrontiert sieht. Es geht nicht nur darum, das erweiterte Gefechtsfeld, das bündnispolitisch bereits in Besitz genommen ist (und faktisch um neutrale Länder wie Schweden oder Finnland ergänzt wird), militärisch funktional zu machen und dabei die Teilstreitkräfte - von der US-Satellitenaufklärung bis zu Infanteristen auf polnischem Boden - zu vernetzen, also die besagte Interoperabilität herzustellen.
Sondern es wird auch die Einkreisung des russischen Territoriums vorangetrieben, wobei die Integration der Atomkriegsführung in diesen Aufmarsch eine besondere militärtechnische Herausforderung darstellt. Mit dem Ganzen wird schließlich eine Ernstfallsituation geschaffen, bei der sich wertvolle Informationen über die russische Seite, ihre Abwehr, Kommunikations- und Kommandostrukturen, sammeln lassen, während sie sich mit einer Invasionsdrohung konfrontiert sieht und in Alarmbereitschaft versetzt wird. Das bindet nicht zuletzt russisches Militär und gewährt der NATO Einblick in den Willen und die Fähigkeit der anderen Seite, was sie diesem Eskalationsschritt entgegensetzen zu hat.
Es handelt sich bei diesem Unternehmen also um eine definitive Eskalation. Es wird eine Kriegssituation simuliert, bei der der Gegner über die nächsten Schritte, über mögliche Übergänge in die direkte Konfrontation, im Unklaren gelassen wird. Nicht im Unklaren bleibt, dass er als Gegner im Visier ist, dass mit dem Sanktionsregime, das die USA über ihn verhängt haben, bereits ein Wirtschaftskrieg eröffnet ist. Sanktionen sind ein gewaltsamer Eingriff in den internationalen Verkehr, der nicht nur gegen den sanktionierten Staat vorgeht, sondern gleichzeitig ein Regime etablieren und durchsetzen muss, das andere Akteure daran hindert, diese Maßnahmen zu unterlaufen.
Die USA machen mit ihrem aktuellen atomaren Aufrüstungsprogramm deutlich, dass sie in Russland einen weltpolitischen Rivalen identifiziert haben, der ihrer militärischen Handlungsfreiheit auf dem Globus im Wege steht, und dass sie von allen Staaten verlangen, bei der Beseitigung dieses, genauer gesagt: ihres Rivalen zumindest nicht zu stören. Die potenteren Mächte, die NATO-Mitglieder voran, dürfen sich hier sogar beteiligen.
Und die Bundesrepublik reiht sich selbstverständlich in die Front ein: Zwar ist das nicht der Weg der nationalen Selbstbehauptung, der mit der Rede von der Verantwortungsübernahme immer wieder angekündigt wurde, und das Verteidigungsministerium legt auch allen Wert darauf, dass man sich beim Manöver an die internationalen Regeln zur Anmeldung und Beobachtung halten, ja extra noch ein paar vertrauensbildende Maßnahmen drauflegen will.
Aber die Bereitschaft, eine "Kultur der Zurückhaltung" (Gauck) aufzugeben und Krieg bis zur letzten Konsequenz zu führen, war ja mit der Verantwortungsbereitschaft stets ausgedrückt. Der Bundespräsident hat ihr jetzt im Namen der ganzen Nation seinen Segen erteilt: "Drehscheibe" in der Vorbereitung des Dritten Weltkriegs zu sein, das ist das, was der Bürger an Sicherheit zu erwarten hat. Dass er auf Autobahnen oder Bahnhöfen den Transportkolonnen gen Osten begegnet, ist so auch eine erzieherische Aufgabe, die ihn mit dem Ernst der Lage vertraut macht, wenn sich Nationen auf den Weg begeben, "die Welt zu verändern".