Deutschlands Wilder Westen

Deutsche Kriegspropaganda. Bild: National Museum of the U.S. Navy/gemeinfrei

Die Historiker und das Unfassbare. "Unternehmen Barbarossa" - Der deutsche Vernichtungskrieg gegen Russland (Teil 2)

Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf.

Adolf Hitler, 30.3.1941

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Adolf Hitler im Oktober 1939 zu seinen Generälen

Schnell wurde der Weltanschauungskrieg zum Vernichtungskrieg (siehe Teil 1: Soweit die Hirne tragen). Doch direkt nach dem Krieg wollte man davon nichts wissen, und bis heute reden sich auch die Klügeren unter den Neuen Rechten auf die Ausrede vom "Präventivkrieg" hinaus und rechnen Katyn gegen Auschwitz, anstatt sich ihren eigenen, immer wieder zur Schau getragenen Ansprüchen zum Weltanschauungsaspekt des Kriegs zu stellen.

Stattdessen Ausreden und Relativierungen, offenkundig, weil Scham und Fassungslosigkeit über Exzesse, Morde und die Eskalation von unerklärtem Angriffsfeldzug in Vernichtungskrieg und über die verlorene Ehre der deutschen Traditionen offenbar selbst extremen Rechten zu sehr zusetzen.

Im neuen Band der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) beschreibt Herausgeber Wolfgang Benz, "das Streben Geschichtsvergessener, die absichtsvoll herbeigeführte Katastrophe schönzureden". Die Ausgabe beleuchtet eine Reihe von Aspekten, die erklären, warum das Thema an Aktualität nicht verloren hat. Der Band der ZfG zeigt auch, dass die Kriegsschuldfrage bis heute von den Neuen Rechten dazu benutzt wird, von allem anderen abzulenken.

Ansonsten tun sich die Historiker mit dem Gedenken des Beginns des deutschen Feldzugs gegen die Sowjetunion schwer. Nach den Bänden in der Reihe des Militärgeschichtlichen Forschungsamts "Deutschland im Zweiten Weltkrieg" oder dem nach wie vor seit bald 40 Jahren als Standardwerk geltenden Band von Gerd Ueberschär und Wolfram Wette ("Unternehmen Barbarossa". Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941: Berichte, Analysen, Dokumente"; zuerst 1984 in der Sammlung Schöningh, seitdem und zuletzt 2011 bei Fischer) gibt es nur eine Handvoll ergänzender Publikationen und neuer Thesen.

Ausgeblendet

Nach wie vor erstaunlich ausgeblendet ist dabei die Sichtweise des Kriegsgegners. Außer deutschen Arbeiten kennt man bei uns die Standardwerke etwa von Richard Overy "Russlands Krieg" und Alexander Werth "Russland im Krieg", aber nichts Neueres, auch wenig bis nichts von russischen Autoren.

Russische Historiker zeigen, wie ernst die sowjetische Führung die Gefahr im Herbst 1941 nahm. Mitte Oktober wurden die meisten Regierungs-, Partei- und Militärbehörden aus Moskau ins 800 km entfernte Kuibyschew an der Wolga verlegt, und etwa eine Millionen Einwohner wurden evakuiert; der Kreml zur Sprengung vorbereitet, Lenins Sarg aus dem Mausoleum in Sicherheit gebracht.

Stalin selbst blieb jedoch mit seinem Hauptquartier in Moskau. Als deutsche Panzer-Verbände am 18.10.1941 nach schweren Kämpfen in die Nähe der Moskauer Verteidigungsstellung gelangten, wurde die Hauptstadt durch Stalin tags darauf zur Festung erklärt und der Belagerungszustand verhängt. Marschall Schukow erhielt umfassende Vollmachten, um Moskau zu verteidigen.

"Die Haltung war: Dies ist das Territorium von Barbaren, hier kann man sich benehmen, wie man will"

Immerhin der Deutschlandfunk interviewte zum Jubiläum den russischen Historiker Oleg Budnizkij. Der schildert die "furchtbaren Folgen":

In den besetzten Gebieten lebten nach heutigen Schätzungen fast 70 Millionen Menschen, zu zwei Dritteln Frauen. Denn die Männer waren in der Armee, oder sie wurden, wie ganze Fabriken oder junge Leute, die noch in die Armee eingezogen werden sollten, nach Osten verlegt. Es war so furchtbar, weil diese Territorien als Objekt von Ausbeutung betrachtet wurden, um Nahrungsmittel und dergleichen zu produzieren. Der Bevölkerung wurde sofort mit abschreckenden Beispielen, bis hin zu öffentlichen Todesstrafen, demonstriert, was es bedeutet, nicht auf die Deutschen zu hören.

Nur ein Beispiel: In Charkiw haben sie die Leute zusammengetrieben, ihnen zur Kenntnis gegeben, was sie dürfen und nicht dürfen - und plötzlich haben sie Leute direkt am Balkon aufgehängt, unter den Augen der Menschenmenge.

Außerdem gab es Deportationen zur Zwangsarbeit in Deutschland, die sogenannten Ostarbeiter. Es gab Kollektivstrafen für Aktionen von Partisanen- und Untergrundkämpfern, Massenerschießungen, Brandstiftungen und so weiter. Das war die Politik der Entvölkerung von Städten. Die Zahl der sowjetischen Verluste ist gigantisch: Nach Schätzungen der sowjetischen Kommission zur Untersuchung nazistischer Verbrechen wurden etwa 7,4 Millionen Zivilisten vorsätzlich vernichtet.

Was den Holocaust betrifft, so waren zwei bis zweieinhalb Millionen der ermordeten Juden sowjetische Juden. Im Unterschied zum Holocaust in Ost-, Zentral- und Westeuropa gab es auf dem Territorium der Sowjetunion keine Vernichtungslager, sondern direkte Erschießungen. Die Haltung war: Dies ist das Territorium von Barbaren, hier kann man sich benehmen, wie man will.

Oleg Budnizkij

Was denken die Russen?

Die Politik des Kremls ziele heute darauf, so der Historiker, dass die Erinnerung nicht verschwindet. Einige Akten würden nach und nach freigegeben. Diese Dokumente belegten nicht nur Heldentaten, sondern auch die Kehrseite des Kriegs:

Dieses Gesicht ist grässlich. Gemeint ist alles, was damit in Zusammenhang steht, dass Menschen andere Menschen umbringen. Und mehr noch, wie Menschen andere Menschen dazu zwingen zu töten. Die Kriegsdisziplin wird oft mit unglaublich harten Mitteln erreicht. In einem solchen Fleischwolf, in einem solchen Gemetzel zu überleben, war ziemlich schwierig.

Oleg Budnizkij

Einblick in die Sichtweise der jüngeren Generation gab ein längeres Gespräch des Autors mit der 29-jährigen Kulturwissenschaftlerin Irina K.: Nach wie vor sei der "Große vaterländische Krieg" für ihre Generation ein bedeutsames Thema. Ein wichtiger Bestandteil des Schulunterrichts.

"Für die Jüngeren für die 20-Jährigen und unter 20-Jährigen sieht es schon wieder anders aus. Für sie ist es 'past perfect'", so Irina K. Jedes Jahr finden anlässlich des 9. Mai Siegesparaden in Moskau statt, der 22. Juni ist ein Gedenktag für die Toten der einzelnen Familien, aber kein offizieller Feiertag. Diese "parade of memory" sei eine neuere Einrichtung, diese Tradition bilde sich erst seit etwa fünf Jahren. Aber: "Man will, dass wir uns erinnern", sagt die Kulturwissenschaftlerin. Mit der Parade werde auch gezeigt, "dass wir nach wie vor eine gute, schlagkräftige Armee haben. Dass wir uns nicht vor irgendeinem Feind fürchten müssen".

Selbstverständlich gebe es auch in den Familien noch viele Fotoalben und in den Fernsehsendern aus Anlass des Jahrestags entsprechende Dokumentationen und Filme. Es folgt eine bemerkenswerte Feststellung: "Die heutigen Deutschen haben mit dieser Vergangenheit nichts zu tun. Seit 1989 haben sich unsere beiden Länder stark verändert." Trotz allen Rechtspopulismus gelte:

"Wir denken nicht an die Nazis, wenn wir Deutschland hören."

Offene Fragen

Das Fehlen neuer Perspektiven und Zugänge zeigt sich auch am aktuellen Band der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, der den augenblicklichen Forschungsstand in Deutschland konzis zusammenfasst, zugleich aber auch eine gewisse Ermüdung der Forschung sichtbar macht.

Ein recht neues Thema ist das Verhalten der eroberten Gebiete, bei dem es unter den Bevölkerungsgruppen große Unterschiede gab: Aus Litauen meldete die Wehrmacht "Exzesse auf offener Straße", aus Lettland die Aufstellung eines "lettischen Selbstschutz", der dann die Drecksarbeit für die deutschen Einsatzgruppen besorgte. In Lemberg, das seinerzeit zur Ukraine gehörte, formierte sich die gesamt-ukrainische Miliz OUN.

Im Gegensatz zu den Ukrainern ließe sich die weißrussische Bevölkerung nicht zu Pogromen aufwiegeln. In den Meldungen der Wehrmacht und der Einsatzkommandos wird "die Passivität und politische Stumpfheit der Weißrussen" beklagt.1

Trotzdem sind viele Fragen weiterhin offen.

Zum Beispiel die Frage nach den Kriegszielen. Die Forschung versucht diese gern zu konkretisieren: Danach ging es um die Eroberung, Beherrschung und Ausbeutung des europäischen Teils der Sowjetunion für den deutschen "Herrenmenschen".

Aber gibt es überhaupt so etwas, wie eine primär wirtschaftliche Zielsetzung? Oder anders gefragt: Lassen sich wirtschaftliche Faktoren vollkommen unabhängig von politischen und militärischen Zielen denken? Und was bedeutet es, wenn in Hitlers Texten und Weisungen immer wieder das Motiv vom "Lebensraum im Osten" auftaucht? Welche Rolle spielt der "Generalplan Ost" dessen Dokumente größtenteils erst nach dem 22.06.1941 erstellt wurden, und darum kaum den Feldzug als solchen erklären.

Immer wieder rätselt man über das Verhältnis zwischen rationalem Management und Effizienzdenken der führenden Heerführer zu deren völligem Irrationalismus und krassen Fehleinschätzungen. Etwa über die Kampfkraft der sowjetischen Armee. Man unterschätzte die Stärke, die taktischen und strategischen Fähigkeiten der Offiziere, man unterschätzte auch die Kampfstärke der einzelnen Soldaten. Trotzdem feierte das deutsche Heer über lange Zeit, selbst noch im zweiten Jahr des Krieges Erfolge, die im Nachhinein erstaunlich scheinen.