Die Achse Ankara-Moskau-Beijing formiert sich
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Nato ignoriert Anliegen Ankaras. Moskau und Peking bemühen sich um Deals mit Türkei. Werden USA und EU rechtzeitig den Ausgleich finden?
Binnen zwei Wochen hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zunächst am Treffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) in Astana und anschließend am Nato-Gipfel in Washington teil.
Wie in einem Brennglas treten hier die Unterschiede zwischen dem westlichen Machtblock und den Verfechtern einer multipolaren Welt zutage.
In Washington machte Erdoğan deutlich, dass die Türkei eine Eskalation mit Russland und die Unterstützung Israels durch die USA ablehnt, während Washington seine übliche Politik mit wenig Zuckerbrot und viel Peitsche versuchte.
Denn die USA unterstützen weiterhin die Kurden in Syrien, während gleichzeitig die Probleme mit syrischen Flüchtlingen in der Türkei zunehmen. Auch sieht sich Ankara mit neuen Sanktionsdrohungen aus den USA konfrontiert.
Ringen um Atomkraftwerke
Zusätzlich treibt das Repräsentantenhaus einen Gesetzesentwurf voran, der die US-Regierung verpflichten würde, das russische Atomenergieunternehmen Rosatom und seine Tochtergesellschaften zu sanktionieren; einschließlich sekundärer Sanktionen gegen alle, die an bedeutenden Transaktionen mit Rosatom beteiligt sind.
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Dies hätte erhebliche Auswirkungen auf das erste und bisher einzige Kernkraftwerk der Türkei, das im vergangenen Jahr eingeweiht wurde. Rosatom finanzierte und errichtete das Kraftwerk, das nach seiner Inbetriebnahme etwa zehn Prozent des türkischen Energiebedarfs decken wird. Aufgrund von US-Sanktionen hatten die Russen in letzter Zeit aber mit Verzögerungen zu kämpfen.
Gleichzeitig versuchen die USA, die Türkei zu Verträgen mit amerikanischen Unternehmen zu drängen, obwohl es damit eine ganze Reihe von Problemen gibt. Zudem würde US-Atomtechnik die türkische Abhängigkeit von Kernbrennstoffen aus Russland oder auch China kaum mindern.
Ausgedehntes Sanktionsregime
Trotzdem führt die Türkei weiterhin Gespräche mit Russland über ein zweites ‒ und mit China über ein drittes Atomkraftwerk. Gleichzeitig wird erwartet, dass die USA die Daumenschrauben weiter anziehen, um Ankara zu zwingen, sich an die Vorgaben aus Washington zu halten.
Eine Suche auf der Website des US-Finanzministeriums ergibt die satte Zahl von 259 sanktionierten türkischen Personen oder Einrichtungen. Das wirft kein gutes Licht auf die Beziehungen innerhalb der Nato, wenn die Türkei gleichzeitig die schlimmste Wirtschaftskrise seit zwei Jahrzehnten durchmacht.
Im starken Kontrast zu diesen Konflikten steht das Geschehen auf dem Treffen der SCO in Astana. Dort genoss Erdoğan einen warmen Empfang. Er traf sowohl mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin als auch mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping zusammen, und beide versprachen, die Beziehungen zur Türkei weiter zu stärken.
Türkei als Vollmitglied der SCO?
Das Gipfeltreffen wurde allgemein als Beleg für die Ambitionen der SCO wahrgenommen, zum Sicherheitsanbieter für den eurasischen Kontinent zu werden. Belarus trat dem Verbund bei, und die Türkei ist ein Beobachterstaat. Was die SCO vorwiegend umtreibt, sind Versuche des Westens, die wachsende Macht ihrer Mitgliedsstaaten zu untergraben.
Erdoğan hat seinen Willen kundgetan, die Türkei zum Vollmitglied der SCO zu machen.
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Wenn das passiert, könnte die Türkei zu einem Schlüsselelement in der Sicherheitsarchitektur der SCO werden. Und Erdoğan ist offensichtlich bereit, dafür auf China zuzugehen. Kritisierte er Peking einst scharf wegen der Behandlung der Uiguren hat er diese Haltung in den vergangenen Jahren fast vollständig aufgegeben.
Dies ist keine Kleinigkeit für Ankara, das die chinesische Provinz Xinjiang früher "Ostturkestan" nannte, China des "Völkermords" an den Uiguren beschuldigte und angeblich eine Rolle bei der Ausbildung militanter Xinjiang-Kämpfer spielte.
Das Ende "Ostturkestans"
Die Änderung der türkischen Haltung dürfte in Washington Bestürzung hervorrufen, ist sie vielleicht ein Zeichen für den Wandel eines Landes, für das es zumindest bisher völlig in Ordnung war, Dschihadisten zu unterstützen, um Ankaras und Washingtons Ziele zu fördern.
Nun aber war der türkische Außenminister Hakan Fidan in China, um über einen möglichen Beitritt der Türkei zu den BRICS-Staaten zu sprechen. Die Haltung Ankaras zur territorialen Integrität Chinas dürfte eine zentrale Rolle bei der weiteren Integration der Türkei in die BRICS und die SCO sein.
Einer weiterer wichtiger Punkt auf der SCO-Agenda, an dem Türkei wesentlichen Anteil hat, ist die Lösung der Syrien-Frage und der Abzug der Amerikaner aus dem zerstörten Land.
Versöhnung zwischen der Türkei und Syrien?
Auf seiner Rückreise vom NATO-Gipfel kündigte Erdoğan an, dass die Türkei und Syrien einen Fahrplan zur Wiederbelebung der Beziehungen festlegen und entsprechende Schritte unternehmen werden. Außenminister Fidan soll ein Treffen zwischen Erdoğan und Assad arrangieren.
Die Beziehung hatte die Regierung Erdoğan einst mutwillig zerstört, indem die Türkei islamistische Kämpfer nach Syrien schleuste und finanzierte und überdies einen breiten "Sicherheitsstreifen" im Norden Syriens besetzte. Dank der Unterstützung aus Moskau scheint eine Aussöhnung zwischen Ankara und Damaskus nun näher nun zu rücken.
Es hätte sowohl für die Türkei als auch für Syrien Vorteile, das Kriegsbeil zu begraben. Allerdings würde die Position der USA in Syrien überaus prekär – vorwiegend im kurdisch dominierten Nordosten des Landes.
Rüstungszusammenarbeit
Und es gibt noch weitere Baustellen in den Beziehungen zwischen der Nato und der Türkei – und zwar ausgerechnet im Bereich Rüstung und Aufrüstung.
Aus türkischer Sicht wurden die türkischen Verteidigungsbedürfnisse schon lange nicht mehr ausreichend berücksichtigt. Seit den 1990er Jahren hat Ankara die Nato gebeten, Frühwarnsysteme und Patriot-Raketen in der Türkei zu stationieren, was jedoch erst 2013 geschah – allerdings im für Ankara unzureichendem Umfang.
Im Jahr 2017 kaufte die Türkei dann S-400-Raketenabwehrsysteme in Moskau. Als Reaktion darauf schlossen die USA die Türkei aus ihrem F-35-Programm aus und verhängten Sanktionen gegen die Rüstungsindustrie des Landes und ihre Führungskräfte.
Interessanterweise zieht auch China neuerdings eine Rüstungskooperation mit der Türkei in Betracht.
Wirtschaftliche Umorientierung
Der Handel zwischen der Türkei und den SCO-Ländern wächst rasant. Das ist zu einem guten Teil auf die Sanktionen des Westens gegen viele SCO-Länder zurückzuführen. Die Türkei hat eine Zollunion mit der EU, die was das Land derzeit zu einem attraktiven Punkt macht, um Zölle oder Sanktionen zu umgehen.
Im Vorfeld des SCO-Gipfels wies der türkische Fernsehsender TRT World darauf hin, dass die türkischen Exporte in die SCO-Länder in den vergangenen fünf Jahren um 85 Prozent gestiegen sind. Machten sie 2019 erst 14,1 Milliarden US-Dollar aus, erreichten sie 2023 bereits 26,1 Milliarden US-Dollar.
Für die türkischen Importe gilt ähnliches: Auch die Einfuhren der Türkei aus den SCO-Mitgliedsländern erreichten im vergangenen Jahr 106,3 Mrd. USD und waren damit etwa doppelt so hoch wie die 55,6 Mrd. USD im Jahr 2019.
Noch liegt der Anteil der SCO-Staaten an den Gesamtexporten der Türkei im vergangenen Jahr bei nur 10 Prozent. Denn die EU ist der bei Weitem wichtigste Handelspartner Ankaras, auf den fast ein Drittel des Handels entfällt. Umgekehrt ist die Türkei mit einem Anteil von 3,6 Prozent am gesamten EU-Handel beteiligt. Aber Russland beliefert die Türkei mit fast der Hälfte ihres Erdgasbedarfes und einem Viertel ihrer Erdölimporte.
Chinesische Investitionen
Ankara bemüht sich intensiv und mit einigem Erfolg um ausländische Investitionen. Hier kommt China mit seinen enormen Finanzressourcen ins Spiel. So hat etwa das chinesische Automobilunternehmen BYD angekündigt, dass es im Westen der Türkei ein Werk im Wert von einer Milliarde US-Dollar plant.
Es ist anzunehmen, dass diese Fabrik weitere chinesische Investitionen nach sich ziehen wird. Die günstige Lage der Türkei könnte das Land zu einer "Produktionsdrehscheibe" machen, deren Schwerpunkt ‒ zumindest vorerst noch ‒ auf zollbefreiten Exporten in europäische Länder liegt.
Allerdings ist es noch ein weiter Weg, bis das Reich der Mitte in der Türkei mit Europa gleichziehen wird. 2022 beliefen sich die chinesischen Direktinvestitionen in der Türkei auf 1,7 Milliarden Dollar. Bisher steht die EU-27 immer noch für 59 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen in der Türkei.
Auch die Menschen wenden sich vom Westen ab
In vielerlei Hinsicht hat sich die türkische Öffentlichkeit inzwischen von der EU und den USA abgewandt und blickt eher nach Osten:
Eine im Dezember 2022 von der türkischen Firma Gezici durchgeführte Umfrage ergab, dass 72,8 Prozent gute Beziehungen zu Russland befürworten. Aber fast 90 Prozent sehen die Vereinigten Staaten als ein feindliches Land an.
Neuere Umfragen des Pew Research Center zum 75-jährigen Bestehen der Nato zeigen kein ganz so düsteres Bild, aber die Türken haben mit 42 Prozent immer noch die zweitniedrigste Zustimmungsrate zum Bündnis unter den Mitgliedern.
Die öffentliche Meinung in der Türkei ist mit überwältigender Mehrheit gegen Israel und die USA. Während des Nato-Gipfels sagte Erdoğan, die USA seien "mitschuldig" an israelischen Massakern.
Mit-uns-oder-gegen-uns-Politik
Die Lage ist prekär, denn Nato würde es wohl nicht dulden, dass die Türkei Mitglied der SCO ist. Es wäre nur allzu typisch für die westliche Mit-uns-oder-gegen-uns-Politik, zu versuchen, das Land dazu zu zwingen.
Umgekehrt versucht die Türkei mit einem neuen Gesetz, gegen "ausländische Interessen" vorzugehen. Nach Angaben von Turkish Minute drohen jedem drei bis sieben Jahre Gefängnis, der
im Auftrag oder im strategischen Interesse einer ausländischen Organisation oder eines Staates Nachforschungen über (türkische) Bürger und Institutionen mit dem Ziel durchführt oder anordnet, gegen die Sicherheit oder die politischen, inneren oder äußeren Interessen des Staates zu handeln.
Solche Gesetze werden zunehmend von Staaten erwogen oder beschlossen, die eine Einmischung des Westens in ihr Land fürchten, oft mit dem Ziel, farbige Revolutionen anzustiften. Doch es gibt keine Garantie dafür, dass die Türkei bedingungslos und auf ewig Mitglied der Nato bleibt.