Terror-Comeback: Inhaftierte IS-Kämpfer könnten mit türkischer Hilfe frei kommen
Frauenverteidigungskräfte in Nord- und Ostsyrien sind alarmiert. Schwere Vorwürfe gegen Nato-Partner Türkei und Kritik an deutscher Außenpolitik.
Die syrisch-kurdischen Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) haben eindringlich vor einem Wiedererstarken der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) in der Region gewarnt. In einem Statement vom 15. Dezember erheben sie in diesem Zusammenhang schwere Vorwürfe gegen das Nato-Mitglied Türkei.
Ankara setzt demnach im Kern dschihadistische Söldnergruppen ein, in denen sich frühere IS-Kämpfer tummeln. Zudem könnten inhaftierte IS-Terroristen durch türkische Angriffe freikommen, heißt es in der Stellungnahme.
SNA und HTS: Dschihadistische Proxies der Türkei?
Der türkische Staat zähle "zu den Hauptverantwortlichen des Konflikts, den das syrische Volk seit nunmehr 13 Jahren ertragen muss", erklärte das Oberkommando der YPJ. Die "Syrische Nationale Armee" (SNA) wird von den Anti-IS-Kämpferinnen als Proxy-Truppe der Türkei beschrieben, die im Wesentlichen aus IS-Banden rekrutiert worden sei.
Der schnelle Untergang des Baath-Regimes innerhalb weniger Tage Anfang Dezember sei "auf das starre Festhalten des Regimes am Status quo und sein Versagen bei der Lösung grundlegender Probleme, insbesondere der kurdischen Frage, zurückzuführen", ist die YPJ-Führung überzeugt.
Einige dschihadistische Gruppen, die mit der türkischen Besatzung und Organisationen wie Hayat Tahrir al-Sham (HTS) verbunden sind und von internationalen Mächten unterstützt werden, drangen unbehelligt in Damaskus ein.
Aus der Erklärung der Frauenverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Jin – YPJ) vom 15. Dezember 2024
Vorwurf: Türkei will Gebiete Nord- und Ostsyriens annektieren
Wiederholt hätten die Türkei und ihre Söldner die Gebiete der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien angegriffen. Der aktuelle Angriff auf diese Regionen werde von IS-nahen Gruppen "unter dem Dach der sogenannten SNA" durchgeführt.
Ziel der Angriffe der Türkei und "ihrer" SNA auf Tel Rifat, Minbic und nun auch Kobanê sei die Besetzung und Annexion des gesamten Selbstverwaltungsgebiets, erklärt das Oberkommando der Frauenverteidigungskräfte.
Befreiung von IS-Terroristen soll Teil des Plans sein
Dass IS-Terroristen aus Gefängnisse frei kommen, wird dabei nach Einschätzung der YPJ nicht nur als Kollateralschaden in Kauf genommen:
Zusätzlich zu diesen gefährlichen Angriffen plant der türkische Geheimdienst MIT Angriffe auf das Lager Al-Hol und Gefängnisse unter unserer Kontrolle, in denen ISIS-Gefangene inhaftiert sind.
Die Freilassung einiger IS-Mitglieder aus den von der HTS geräumten Gefängnissen hat die Gefahr eines Wiederauflebens des IS in unserer Region erhöht. Das Risiko, dass Syrien unter die Kontrolle des IS oder von mit dem IS verbündeten Gruppen fällt, ist deutlich gestiegen. Heute versucht der IS, sich unter verschiedenen Namen als Projekt der Besatzungsmacht der Türkischen Republik zu legitimieren. Diese Strategie zielt darauf ab, das Schicksal der Region den reaktionärsten Kräften der Welt anzuvertrauen.
Aus der Erklärung der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), 15. Dezember 2024
Neben den Volksverteidigungskräften (YPG) hatten die Frauenverteidigungskräfte vor knapp zehn Jahren einen wesentlichen Anteil an der Befreiung der syrisch-kurdischen Stadt Kobanê, die Ende 2014 Ziel konzertierter IS-Angriffe war. Frauen mussten davon ausgehen, im Fall einer Kapitulation von den Dschihadisten versklavt und vergewaltigt zu werden.
Nun scheint die Gefahr in der Region wieder präsent, die YPJ glauben jedenfalls nicht daran, dass Täter von damals dauerhaft "moderat" geworden sind.
Bereits am türkischen Angriff auf den nordsyrischen Kanton Afrin 2018 waren dschihadistische Hilfstruppen beteiligt, die teils unter dem Label "Freie Syrische Armee" (FSA) agiert hatten.
Tausende IS-Kämpfer in kurdischer Haft
"Die türkischen Angriffe sind auch eine globale Gefahr. Viele tausende IS-Kämpfer befinden sich noch in kurdischer Haft. Der IS versucht sich um ein Comeback, durch die türkischen Angriffe wird das wahrscheinlicher", betonte am Montag Civan Akbulut, der die Informationsstelle Antikurdischer Rassismus (IAKR) in Essen leitet und dem Integrationsrat der Stadt angehört, auf der Plattform X.
"Es besteht noch Möglichkeit, eine größere Katastrophe zu verhindern", so Akbulut. Die Welt müsse handeln und die Türkei in ihre Schranken weisen. "Niemand soll später behaupten, er wüsste von nichts."
Keine Waffen mehr für Erdogan: Das fordert Die Linke
Die Partei Die Linke fordert daher ein Waffenembargo gegen die Türkei und die sofortige diplomatische Anerkennung des Selbstverwaltungsgebiets der Demokratischen Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (DAANES).
Die Bundesregierung habe wesentlichen Einfluss vor Ort, betonte Linken-Ko-Chef Jan van Aken bereits vor zwei Wochen. "Statt weiter den Terrorsponsor Erdogan mit Waffen zu beliefern, die mitunter direkt an die Dschihadisten weitergegeben werden, müssen wir jetzt die Kräfte in Syrien stärken, die für Stabilität und Demokratie stehen."
Erst Anfang Oktober hatte die Bundesregierung einen Kurswechsel vollzogen und nach einer Zeit der Zurückhaltung wieder Waffenexporte im Wert von 250 Millionen Euro an die Türkei genehmigt.
Baerbock-Ministerium setzt hohe Erwartungen in die Türkei
Das deutsche Außenministerium hielt sich zu den Vorwürfen gegen die Türkei bisher weitgehend bedeckt, obwohl Ressortchefin Annalena Baerbock (Grüne) sich "feministische Außenpolitik" auf die Fahnen geschrieben hat.
Beim Nato-Außenministertreffen Anfang Dezember in Brüssel hatte sich Baerbock mit ihrem türkischen Amtskollegen Hakan Fidan über die Lage in Syrien ausgetauscht. Ihr Ministerium erklärte im Anschluss knapp:
Als Schlüsselakteur in der Region kommt der Türkei eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der aktuellen Krise zu. Der Schutz von Zivilisten und Minderheiten muss oberste Priorität haben.
Auswärtiges Amt, 3. Dezember 2024
Ansage an Nato-Partner Türkei
In einer ausführlicheren Erklärung sagte Baerbock wenige Tage später, Syrien dürfe "nicht erneut zum Spielball ausländischer Kräfte Mächte werden". Die territoriale Integrität Syriens dürfe nicht infrage gestellt werden, "wenn wir ein friedliches Syrien wollen".
"Nachbarn wie die türkische und israelische Regierung, die Sicherheitsinteressen geltend machen, dürfen mit ihrem Vorgehen nicht den Prozess gefährden", sagte Baerbock mit Blick auf einen "innersyrischen Dialogprozess".
Die taz lobte Baerbock für die klare "Ansage an Verbündete", die in Syrien "zu weit" gehen würden.
Die HTS-Miliz habe Fakten geschaffen und sei einer der entscheidenden Akteure für die Zukunft Syriens, hieß es aus Baerbocks Ressort weiter.
Wir werden sie an ihren Taten messen. Jede Zusammenarbeit mit HTS setzt voraus, dass religiöse Minderheiten geschützt, Frauenrechte geachtet und Racheakte unterbunden werden.
Auswärtiges Amt, 11. Dezember 2024
Gemeinsame Erklärung: Wie Syrien regiert werden soll
Am 15. Dezember folgte dann eine gemeinsame Erklärung, die von den Regierungen der Arabischen Kontaktgruppe zu Syrien sowie Deutschlands, der Türkei, Katars, Bahrains, der Vereinigten Arabischen Emirate, Großbritanniens, Frankreichs, USA sowie von der Europäischen Union und vom Sondergesandten der Vereinten Nationen für Syrien am Rande der Ministerkonferenz zu Syrien in Akaba veröffentlicht wurde.
Alle bekräftigten "ihre uneingeschränkte Unterstützung für die syrische Bevölkerung zu diesem entscheidenden Zeitpunkt in der Geschichte ihres Landes bei der Gestaltung einer hoffnungsvolleren Zukunft in Frieden und Sicherheit" und stellten sich formell hinter die Resolution 2254 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen.
Demnach soll in Syrien "eine alle einbeziehende, keine einzelne Gruppe bevorzugende und repräsentative Regierung gebildet werden". Ob und wie stark sich die Vorstellungen davon unterscheiden, wird sich in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten zeigen.
Wofür Baerbock die Türkei in der Verantwortung sieht
Am heutigen Nachmittag würdigte Baerbock auf der Plattform X überraschend die Verdienste der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten im "mutigen Kampf" gegen den IS, für den Kobanê ein Symbol geworden sei. "Weiteres Blutvergießen ist das Letzte, was die Menschen nach 14 Kriegsjahren erfahren sollten", betonte die deutsche Außenministerin.
"Auch die Türkei steht in Verantwortung, Syriens territoriale Integrität und die Hoffnung auf Frieden zu erhalten", fügte sie hinzu, nannte aber zunächst keine Konsequenzen der deutschen Außenpolitik für den Fall, dass die türkischen Angriffe weitergehen.