Die AfD und die Tragik politisch-korrekter Tabus

Nazi-Vergleiche sind in Deutschland verpönt – außer, es geht um die AfD. Oder die CDU. Warum Identitätspolitik à la Böhmermann das Gegenteil von dem erreicht, was sie will.

Man muss Jan Böhmermann nicht mögen. Ihn auch nicht als "Journalisten" adeln. Aber zugeben muss man, dass der 42-jährige ZDF-Moderator viele Menschen erreicht. Viele junge Menschen, die vielleicht noch nach passenden Motiven für ihr Weltbild suchen.

Wenn der bühnenaffine Bremer also öffentlich Teile der CDU als "Nazis mit Substanz" bezeichnet – wie zuletzt nach der Ankündigung von CDU-Fraktionschef Friedrich Merz, mit der AfD auf Kommunalebene "pragmatisch" umzugehen –, sind viele bereit, ihm in seiner Rage zu folgen.

Böhmermann spart nicht gerade mit dem Begriff aus der dunkelsten Epoche der deutschen Geschichte. Twitter (heute: X), den Messenger, den der Moderator nach der Übernahme durch Elon Musk eigentlich boykottieren wollte, nannte er erst im Juni einen "Nazi-Magneten".

Die Einladung von AfD-Fraktionschef Tino Chrupalla zu Maischberger kommentierte er ebenfalls mit einem Verweis auf die NS-Zeit.

Dabei hat Böhmermann, mit einem (weiteren) Begriff aus der Lingua Tertii Imperii, den Grund für seine blinde Wut benannt: eine drohende "Machtergreifung" durch die AfD angesichts ihrer derzeit hohen Umfragewerte.

Die Konfrontation mit selbigen Werten beim ZDF-Sommerinterview veranlassten zuletzt auch den Co-Chef der Grünen, Omid Nouripour, die AfD mit den Nationalsozialisten gleichzusetzen.

Opposition ist Nazi

Natürlich ist es im Fall der AfD nichts Neues, dass die breite Masse eine Zuschreibung akzeptiert, die einst Verbrechern des dritten Reichs vorbehalten war. Daran haben die gebührenfinanzierten Hybridformate der politischen Comedy à la heute show, extra 3 und Co. ebenso ihren Anteil wie die deutschen Leitmedien.

Neu ist, dass der Begriff auch für andere Parteien zu taugen scheint, und nach der "AFDP" ist bei Influencer Böhmermann jetzt eben die Union dran. Aber da gibt es dann doch einen Unterschied.

Denn bei aller zulässigen Kritik war die christlich-demokratische Allianz immerhin jahrzehntelang Volkspartei Nachkriegsdeutschlands – und hatte dabei Leute an der Spitze wie Franz Josef Strauß (CSU), dessen Ansichten aus heutiger Sicht mindestens konservativ zu nennen wären und der AfD näher stünden als den Unionsparteien.

Viele von Strauß‘ Befürwortern gehen noch immer zur Wahlurne, und bis heute finden sich nicht wenige Ex-Unionsmitglieder in der AfD. Noch mehr Menschen sind es, die den aus heutiger Sicht mindestens als konservativ geltenden Kult-Moderator Harald Schmidt im öffentlich-rechtlichen noch ohne Trigger-Warnung vor "diskriminierenden Inhalten" gesehen haben. Das sollen jetzt alles Nazis sein?

Egal, wie man zur AfD steht, und ob man sie für eine geschlossen rechtsextreme oder nur für eine neoliberale Partei hält, deren Wortführer selbst bei Weitem nicht so nationalkonservativ leben, wie es manche Wähler gerne hätten: Die AfD legt zu.

Und das liegt weniger "an den Wählern selbst", wie Sawsan Chebli (SPD) kürzlich tautologisch konstatierte, sondern daran, dass die AfD wie keine andere Partei die oppositionellen Themen besetzt.

Es heißt immer, wer den Diskurs für die AfD öffnet, legitimiert deren Standpunkte. Das sagen nicht nur Menschen, die sich "von links" gegen die Partei positionieren, sondern ist zum Beispiel auch immer wieder Thema in der journalistischen Ausbildung, die beim Verfasser dieses Textes auch gar nicht so lange zurückliegt.

Dass an die Partei keine Posten vergeben werden oder Regierungsverantwortliche fordern, demokratische Wahlen rückgängig zu machen, sehen die meisten ebenso als selbstverständlich an.

Das "Geschäft der Nazis"

In einer aufgeklärten, mündigen Gesellschaft wäre es müßig, zu sagen, aber: Nein, hier geht es nicht um eine Apologie der AfD (oder sonst einer Partei). Und nein, Rassismus, Diskriminierung oder Gewalt dürfen nicht Teil dieser Gesellschaft sein. Verhältnismäßigkeit und kritisch-analytisches Denken aber schon. Die Frage ist: Wird diese Kultur der Verhältnismäßigkeit in der politischen Landschaft Deutschlands noch gepflegt?

Denn das Brisante ist: Schon wenn die AfD nur ein einziges Mal recht hat und damit in der Öffentlichkeit kein Gehör findet, werden sich Menschen darauf berufen und einem als tabuisiert empfundenen Diskurs den Rücken kehren.

Wenn sie nicht schon vorher als "Nazis" galten, werden sie sich spätestens dann damit abfinden, wenn es die einzige Form ist, ihrer Stimme innerhalb des parlamentarischen Systems Ausdruck zu verleihen. Alle, die sagen "das wird man ja wohl noch sagen dürfen", heißt die AfD herzlich willkommen.

Vor diesem Hintergrund lässt sich die Aussage der CDU-Bildungsministerin Schleswig-Holsteins, Karin Prien, verstehen, Jan Böhmermann betreibe "das Geschäft der Nazis", wenn er Leute leichtfertig als solche betitele.

Abgesehen davon, dass die Aussage oberflächlich widersprüchlich scheint, hat sie einen wahren Kern: Wer zu rigoros Tabus und Denkverbote ausspricht, bereitet einer Gegenbewegung den Boden. Diese Gefahr einer "Rückkehr des Verdrängten", um mit Sigmund Freud zu reden, wird von eindimensionalen Denkern gerne ignoriert. Ganz anders bei dem abwägenden Denken, das man "dialektisch" nennt.

Das verlorene (innere) Zwiegespräch

Ohne die Leserinnen und Leser mit verworrenen philosophischen Gedanken zu langweilen, lässt sich die dialektische Logik grob mit der Trias These-Antithese-Synthese zusammenfassen: Der Wahrheit kommt man erst dann nahe, wenn man die eigene Perspektive (These) aus der Gegenperspektive (Antithese) heraus infrage stellt, genauer gesagt um entsprechende Einsichten ergänzt (Synthese).

Ein inneres Zwiegespräch quasi. Mit dem Wissen wächst nicht nur der Zweifel, wie es bei Goethes Faust heißt, sondern mit dem Zweifel auch das Wissen. Oder um mit dem Volksmund zu sprechen (der weder "völkisch" noch antipluralistisch ist): Die Wahrheit liegt immer dazwischen.

An dieser Logik mangelt es auch auf der Gegenseite, die oft genug den Anschein erweckt, über jeglichen Zweifel erhaben zu sein. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) etwa nährte in Bezug auf den ZDF-Moderator Böhmermann das Narrativ, ein "linker" Mainstream in ARD und ZDF sei schuld an der Verrohung der innerdeutschen Debattenkultur.

Wer auf diese Weise "die Linken" für eine einseitige Weltsicht kritisiert, sieht den Balken im eigenen Auge nicht: Wer ist "die Linke"? Die Antifa oder Sahra Wagenknecht? Noam Chomsky oder Judith Butler? Martin Sonneborn oder Nico Semsrott?

Tatsächlich aber liegt auch darin ein wahrer Kern. Denn aus der klassisch-sozialistischen Linken, die traditionell eher mit dem Anarchismus liebäugelt, ist eine postmoderne, kultursoziologisch ausgerichtete Linke hervorgegangen, mit der sich der Konflikt der Identitätspolitik – manche wollen gar von einem "Kulturkampf" sprechen –, deutlich verschärft hat.

Es mag ein zweifelhafter Zeuge sein, der nun hier aufgerufen wird, aber die Person, die eine Ideologiekritik dieser identitären Linken bereits sehr früh in klare Form gegossen hat, war der "Unabomber" Ted Kaczynski, und zwar schon 1995.

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