Die AfD und die Tragik politisch-korrekter Tabus

Seite 3: Absage an den Dialog

Auch der sonst so differenziert denkende Herbert Marcuse hat in Bezug auf diese Ideologie 1965 mit seiner Rede von der "repressiven Toleranz" Öl ins Feuer gegossen:

In der Überflussgesellschaft herrscht Diskussion im Überfluss, und im etablierten Rahmen ist sie weitgehend tolerant. Alle Standpunkte lassen sich vernehmen: der Kommunist und der Faschist, der Linke und der Rechte, der Weiße und der Neger, die Kreuzzügler für Aufrüstung und die für Abrüstung.

Ferner wird bei Debatten in den Massenmedien die dumme Meinung mit demselben Respekt behandelt wie die intelligente, der Ununterrichtete darf ebenso lange reden wie der Unterrichtete, und Propaganda geht einher mit Erziehung, Wahrheit mit Falschheit.

Diese reine Toleranz von Sinn und Unsinn wird durch das demokratische Argument gerechtfertigt, daß niemand, ob Gruppe oder Individuum, im Besitz der Wahrheit und imstande wäre zu bestimmen, was Recht und Unrecht ist, Gut und Schlecht. Deshalb müssen alle miteinander wetteifernden Meinungen "dem Volk" zur Erwägung und Auswahl vorgelegt werden (…)

Befreiende Toleranz würde mithin Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts bedeuten und Duldung von Bewegungen von links. […] hätte man die demokratische Toleranz aufgehoben, als die künftigen Führer mit ihrer Kampagne anfingen, so hätte die Menschheit eine Chance gehabt, Auschwitz und einen Weltkrieg zu vermeiden.

Herbert Marcuse, Repressive Toleranz, 1965

Diesen Geist von "false balance" und antidemokratischer Demokratieverteidigung, wenngleich entstanden aus traumatischen Erfahrungen und hehren Motiven, atmet auch die Neue Linke, die es auch in Deutschland gibt – und zwar nicht nur als Feindbild der politischen Rechten.

Dazu noch einmal Kaczynski:

Wo immer die Linke eine Machtposition innehat, neigt sie dazu, in jede private Ecke einzudringen und jeden Gedanken in eine linke Form zu zwingen. Das liegt zum Teil am quasi-religiösen Charakter der Linken:

Alles, was den linken Überzeugungen widerspricht, ist Sünde. Noch wichtiger ist jedoch, dass die Linke aufgrund ihres Machtstrebens eine totalitäre Kraft ist.

Der Linke versucht, sein Machtbedürfnis durch Identifikation mit einer sozialen Bewegung zu befriedigen, und er versucht, den Machtprozess zu durchlaufen, indem er hilft, die Ziele der Bewegung zu verfolgen und zu erreichen.

Ted Kaszynski , Industrial Society and Its Future (1995)

Den Prozess, den Kaczynski hier beschreibt ("… ist Sünde"), ist ein anerkanntes Phänomen, das in der modernen Sozialforschung als "Eigengruppen-Bias" bezeichnet wird:

[Der] Eigengruppen-Bias [...]ist funktional für die Aufrechterhaltung einer Wertdifferenzierung, einer positiv bewerteten sozialen Identität und damit für einen positiven sozialen Selbstwert. Die Bewertung des sozialen, durch Gruppenzugehörigkeiten bestimmten Selbst basiert auf dem Status der Eigengruppe im Verhältnis zu Fremdgruppen.

Wenn wir gut sind, scheinen die anderen, die ja anders sind als wir, notwendigerweise weniger gut zu sein.

Andreas Beelmann, Kai J. Jonas (Hrsg.): Diskriminierung und Toleranz, 2009

Der Grad des Zugehörigkeitsgefühls in solchen Eigengruppen bestimmt einer weiteren soziologischen Theorie zufolge, der des sogenannten Groupthink (oder: Gruppendenken), den Grad der Ablehnung alternativer Perspektiven:

Gruppendenken wird (…) als übermäßiges Streben nach Einmütigkeit definiert. Es entsteht bei Personen, deren Harmoniestreben in hochkohäsiven Gruppen die Motivation, andere Alternativen akkurat zu bewerten, überwiegt.

Gruppendenken beschreibt also einen defizitären Gruppenentscheidungsprozeß, der mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu einer mangelhaften Entscheidung mit zum Teil katastrophalen Konsequenzen führt.

Spektrum Lexikon der Psychologie: Gruppendenken

"Nazis rein"

Wenn man jetzt nicht "das Geschäft der Nazis betreiben" will, wie Karin Prien es nennt, heißt das im Fall der AfD: Wo diese Partei recht hat oder, wenn einem das besser gefällt, recht zu haben droht, muss man umso dringender darauf eingehen, um das oppositionelle Feld nicht einer einseitigen, partikularistischen Betrachtung beziehungsweise Darstellung zu überlassen.

Jan Fleischhauer, eher für den "schwarzen Kanal" im Spiegel und seine konservativ-intellektualisierte Polemik als für differenzierte Betrachtungen bekannt, hat das im Januar 2019 einmal in eine sehr zugespitzte Formel gebracht: "Nazis rein":

Einige Aktivisten erklären, dass mit der Parole "Nazis raus" gemeint sei, Nazis sollten sich nicht mehr öffentlich äußern können. Auch das wird ein frommer Wunsch bleiben. Menschen reagieren meiner Erfahrung nach nicht verständnisvoll, wenn man ihnen sagt, dass sie die Klappe halten sollen, sondern eher trotzig.

In einer Demokratie kommt verschärfend hinzu, dass sogar Nazis eine Stimme haben. Wenn man Pech hat, wählen sie genau die Leute, die ihnen sagen, dass sie sie prima finden.

Jan Fleischhauer: Nazis rein, Der Spiegel, 2019

Wenn die Empörung über Spaltung oder gar die Furcht vor einem (intellektuellen) Bürgerkrieg die eine Seite der diskursiven Szenarien abdeckt, ist die andere, dass man von Spaltung nicht mehr reden sollte, weil die AfD das tut. Oder weil nur ein brauner Blinddarm abgespalten wird.

Stattdessen wäre es daran, sich in Gepflogenheiten zu üben, die jeden als gleichberechtigten, wenn auch nicht als gleich überzeugenden Teilnehmer des Diskurses mitstreiten lassen. Alles andere – "Zensur" und "Vorzensur", wie sie auch Marcuse forderte – hilft nur, das Bild von der Entmündigung zu festigen, das für immer mehr Gegenwind sorgen wird. Derlei diskursive Herrschaftsmittel zu etablieren, kann in niemandes Interesse liegen.

Man könnte hierzu auch wieder den Volksmund sprechen lassen: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.

Schopenhauer hat behauptet, dass diese einfache Volksweisheit hinter Kants kategorischem Imperativ stecke, wohl dem Inbegriff der deutschen Moralvorstellung. Die Frage, die zugleich das gesamte hier geschilderte Problem zusammenfasst, ist nur: Kann man Kant noch zitieren, seit man ihn über seine antisemitische Seite definiert?

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