Die Angst der Medien vor der Wahrheit

Seite 3: Medien als integralen Bestandteil des Irak-Kriegs

Und auch die Rolle der Medien bei der Rechtfertigung des Kriegs bleibt unerwähnt. Aus gutem Grund. Ohne die Beihilfe der Leitmedien, vor allem in den USA, wäre der Krieg nicht durchführbar gewesen. Sie sorgten dafür, dass die Bevölkerung und Gesellschaft zumindest passiv blieb und nicht gegen den Angriffskrieg rebellierte. Der Krieg war nämlich insgesamt unpopulär. Je länger er dauerte, umso stärker nahm die Ablehnung zu.

Auch in Deutschland sollte keine Anti-USA- sowie Antikriegsstimmung aufkommen. Daher brauchte es einen angemessenen Verstehenshorizont, indem sich das brutale Kriegsverbrechen nicht wie ein Verbrechen anfühlen sollte. Nur ein Beispiel. So versuchte sich das Nachrichtenmagazin Der Spiegel nach Erscheinen der Wikileaks-Pentagon-Protokolle zum Irak-Krieg im Oktober 2010 an einer Erklärung des Scheiterns der Befriedung nach der erfolgreichen Beseitigung des Diktators Saddam Husseins.

Die "letzte verbliebene Supermacht der Welt" habe sich durch die "allgegenwärtige Angst, dass gleich an der nächsten Straßenecke eine weitere Sprengfalle hochgehen könnte" lähmen lassen. "Diese kurzen, nüchternen Protokolle addieren sich zu dem genauen Abbild eines asymmetrischen Kriegs, in dem eine hochgerüstete Supermacht eher hilflos auf dem Schlachtfeld steht und nicht weiß, wie ihr geschieht."

Auf dem Spiegel-Titelbild stand die Überschrift: „Über 100 000 Tote und immer noch kein Frieden. War es das wert?“. Alexander Smoltczyk und Bernhard Zand bilanzierten: Das legitime Ziel, den Tyrannen zu stürzen, wurde durch den Krieg erreicht. Die "Entwaffnung" Saddam Husseins sei jedoch "den Krieg nicht wert" gewesen.

Die USA hätten zudem verzweifelt versucht, dem Irak Menschenrechte zu bringen, aber dieses Ziel sei nur formal in Form von freien Wahlen, Meinungsfreiheit usw. erreicht worden. "Der Plan, im Irak einen Brückenkopf der Demokratie im Nahen Osten zu errichten" sei darüber hinaus trotz einiger Erfolge vor allem durch den Einfluss des Irans zunichtegemacht worden.

Amerika könnte mit seinem "Sachverstand über den Nahen Osten, den es schon damals hatte, aber auf seinem überstürzten Weg nach Bagdad so fahrlässig zur Seite wischte", einen neuen Anfang im Irak machen. Aber dem "Demokrat und Menschenrechtler Barack Obama" höre heute keiner mehr zu, wenn er über "Demokratie und Menschenrechte spricht".

"Der Irak-Krieg kam zum falschen Zeitpunkt, er kam mit falschen Gründen, er hat katastrophale Folgen. Vieles davon konnte man vorher wissen. Deshalb war es ein dummer Krieg", resümiert der Spiegel.

Im Klartext: Ein "dummer Krieg" mit hehren Idealen gefochten, gescheitert im Wüstensand und Häuserkampf. Ein klassisches Erklärmuster, wenn Kriege die erwünschte Wirkung, Kontrolle über eine als wichtig erachtete Region zu erhalten, nicht erbringen wollen.

Die Amerikaner, "Hauptakteure in diesem Krieg – als Täter und als Opfer", so der Spiegel, seien immer tiefer in einen blutigen Bürgerkrieg hineingezogen worden, hätten durch "Nervosität" an Checkpoints, permanente "Hinterhalte" des Gegners auch überreagiert.

Bei den "katastrophalen Folgen" hielt sich der Spiegel nicht lange auf. Er listete einige "Irrtümer" und Tragödien des US-Militärs, wie man sie in den Pentagon-Dokumenten fand, auf, bei denen zivile Opfer zu beklagen waren. Ihnen stellte man die Morde an GIs gegenüber, die heimtückisch aus dem Hinterhalt begangen wurden.

Der Spiegel bot derart ein "ausgewogenes" Opfer-Resümee nach dem Motto: Sowohl die USA als auch der Irak hatten Federn gelassen. Dass die Krebsrate und Kindersterblichkeit in der irakischen Stadt Falludscha nach dem gnadenlosen Beschuss des britischen und US-Militärs, vermutlich verursacht durch massiven Gebrauch von Uranmunition und weißem Phosphor, höher liegt als in Hiroshima und Nagasaki nach dem Atombombenabwurf 1945 und Mütter dort verstümmelte und entstellte Kinder gebären, gehörte nicht in diese oder andere Irak-Bilanzen.

Ebenso nicht die Tatsache, dass zwei renommierte Opferstudien der Johns Hopkins University in Washington D.C. und des angesehenen britischen Meinungsforschungsinstituts "Opinion Research Business" (ORB) 2006 und 2008 schon weit höhere Opferzahlen dokumentierten, als der Spiegel Ende 2010 mit Bezug auf die Pentagon-Protokolle suggerierte.

Die Forscher der Johns Hopkins University errechneten aus repräsentativen Untersuchungen vor Ort, im angesehenen britischen Medizinjournal Lancet peer-reviewed erschienen, dass 601.027 Iraker, größtenteils Zivilisten, zwischen März 2003 und Juli 2006 im Krieg gewaltsam getötet wurden. ORB kam 2008 auf Grundlage von repräsentativen Umfragen irakischer Haushalte auf eine Opferzahl von rund einer Million Iraker als Folge des Kriegs.

Wie viele US-amerikanische Zivilisten wurden von Irakern demgegenüber getötet? Welche Schäden erlitten San Francisco, Washington D.C. oder Boston durch irakisches Militär? Soviel zur ausgewogenen Opfer-Arithmetik des Spiegels.

Die Medien haben bis heute Angst vor der Wahrheit, weil sie selbst zu einem integralen Bestandteil des Irak-Kriegs geworden sind – wie auch bei den anderen westlichen Kriegsmärchen. Sie haben weggeschaut und gerechtfertigt – und tun es weiter, mit wenigen Abstrichen. Zugleich operieren sie auf offener Bühne mit doppelten Standards.

Sie erklären Russland unisono zum Paria der Weltgeschichte, während sie das globale Großverbrechen der USA zum 20. Jahrestag wegschwurbeln – wie auch viele andere Verbrechen, die bis heute andauern, siehe den Drohnenkrieg. Sie fordern ein Sondertribunal für die russischen Kriegsverbrechen. Und für die Kriegsverbrecher und Kriegsverbrecherinnen zu Hause heißt es: Schwamm drüber.

Sicherlich, für Kritiker:innen dieser Heuchelei gibt es Gegenmittel: "Whataboutism" zum Beispiel. Aber niemand zwingt uns, die irrationale und zynische Haltung einzunehmen und wegzuschauen, wenn es uns betrifft.