Die Debatten über die NATO-Norderweiterung
Seite 5: Bedrohung durch russische Aufrüstung
Im August 2008 griffen russische Truppen das kleine Georgien an. Der damalige Präsident rechtfertigte den Überfall mit seiner so genannten Medwedew-Doktrin, einer Modifikation der alten Breschnew-Dokrin: Demnach gehöre es zur russischen Staatsräson, das Leben von Russen im benachbarten Ausland zu schützen. Dem folgte die russische Annexion der Halbinsel Krim 2014. Diese wiederholten Angriffe schüren Ängste, Russland könne auch die drei baltischen Staaten attackieren. Dadurch fühlen sich auch Finnland und Schweden zunehmend durch Russland bedroht. Hinzu kommt eine massive russische Aufrüstung im Bereich der Arktis, auf der Kola-Halbinsel und im Raum Sankt Petersburg. Da Russland den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) am 11. März 2015 aufgekündigt hat, ist es an Rüstungsbeschränkungen in diesem Bereich nicht mehr gebunden.
Mit ihrem Programm zur Reform und Modernisierung der Streitkräfte "Gosudarstvennaya programma vooruzheniya 2020" (GPV 2020), das offiziell 2011 begann und noch bis mindestens 2020 andauern wird, rüstet die russische Regierung massiv auf. Das Aufrüstungsprogramm hat einen Umfang von voraussichtlich 700 Milliarden Euro. Außerdem kündigte die russische Regierung im Oktober 2011 an, weitere 72 Milliarden Euro in die Modernisierung der russischen Rüstungsindustrie reinzustecken, damit die maroden Betriebe überhaupt erst in den Zustand versetzt werden, um die gigantischen Rüstungsprojekte umsetzen zu können.
Wie Präsident Wladimir Putin im Februar 2012 ankündigte, umfasst das Rüstungsprogramm die Produktion von 17.000 Militärfahrzeugen, über 2.300 Kampfpanzern (T14 Armata, T-99), neuen Schützenpanzern Kurganez-25 und Bumerang, Luftlandepanzern BMD-4M, 2.000 Kanonen und Haubitzen (Tornado-G, Tornado-S, ...), Flugabwehrraketen (S-400 TRIUMF, S-500,...) 600 Militärflugzeugen (T-50 PAK FA, Su-35S, An-124-100 RUSLAN, AN-140, Il-476,...), 1.000 Hubschrauber (Ka-52, Ka-226, Mil-28N, Mil-35M,...), Drohnen vom Typ Tachyon, 50 Überwasserschiffe (Projekt 22350, Projekt 11356M,...), 20 U-Boote (YASEN, Projekt 885,...), 400 Interkontinentalraketen, 8 Strategische Atom-U-Booten (BOREI-Klasse), 100 Militärsatelliten, etc. Die finnische Nationale Verteidigungsuniversität (Maanpuolustuskorkeakoulu) in Helsinki legte dazu 2013 eine umfassendere Studie vor.
Im Rahmen der russischen Militärreform wurde das Vereinige Strategische Kommando West (Objedinjonnoje strategitscheskoje komandowanije Zapad - OSK Zapad) im September 2010 durch Vereinigung der früheren Militärbezirke Sankt Petersburg und Moskau aufgestellt. Sein Hauptquartier befindet sich in Sankt Petersburg im alten Gebäude des zaristischen Generalstabs. Dem Kommando sind in Friedenszeiten insgesamt 400.000 Soldaten unterstellt.
Die in der Region stationierten Heeresverbände sind u. a. der 6. Armee mit Stab in Agalatowo unterstellt. Durch die Militärreform wurden die alten Regimenter aufgelöst und in eine Brigadenstruktur überführt. Zu den Führungs- und Kampfverbänden zählen u. a. folgende Truppenteile: 132. Selbstständige Fernmeldebrigade (Agalatowo), 82. Selbstständige SIGINT-Brigade OSNAZ (Wjasma) und 146. Selbstständige SIGINT-Brigade OSNAZ (Sankt Petersburg und Bugry), 9. MotSchützenbrigade (Nischni Nowgorod), 25. Selbstständige Garde MotSchützenbrigade mit 3.000 Infanteristen (Wladimirskij Lager), 27. Garde MotSchützenbrigade (Widnoje-4), 79. Selbstständige Garde MotSchützenbrigade (Gusew), 138. Selbstständige Garde MotSchützenBrigade mit 3.000 Soldaten (Kamenka), 200. Selbstständige MotSchützenBrigade (Pechenga), 7. Garde MotSchützenRegiment (Kaliningrad), 26. Raketenbrigade in Luna in der Enklave Kaliningrad, die seit 2011 mit schätzungsweise 48 Atomraketen ISKANDER-M mit einer Reichweite von 700 km ausgestattet ist, 9. Garde-Artilleriebrigade (Luga), 244. Artilleriebrigade (Kaliningrad), die 268. Garde-Artilleriebrigade (Puschkin) und 79. Raketenwerferbrigade (Twer), usw.. Hinzu kommt die 2. Selbständige Spetsnaz-Brigade des Militärgeheimdienstes GRU mit 1.000 Mann (Pskow).
Im Dezember 2013 wurde die 15. Heeresfliegerbrigade in Ostrow aufgestellt. Der Verband ist mit modernsten Hubschraubern der Typen Ka-52 Alligator, Mi-28N Night Hunter, Mi-8MTV-5 und Mi-26T ausgerüstet. Die 25. Selbstständige Garde MotSchützenbrigade in Wladimirskij Lager wurde in den letzten Jahren neu aufgestellt. Außerdem nahm das russische Heer im Januar 2015 die 6960. Militärbasis Alakurtti wieder in Betrieb, die erst 2009 geschlossen worden war, und stationierte hier eine (Arktis-)Brigade der Nordmeerflotte mit rund 3.000 Mann.
Die regionalen Luftstreitkräfte sind im 1. Kommando der Luftwaffe und Luftverteidigung (1. Kommandowanie WWS i PWO) in Woronesch zusammengefasst. Diesem Kommando sind drei Brigaden der Luft-Weltraum-Verteidigung (Brigada Wosduschno-Kosmitscheskoi Oboroni - BrWKO) in Seweromorsk, Tjatsi und Kaliningrad nachgeordnet. Zu den unterstellten Verbänden zählen die 6959. AB (Awiazionnaja Basa, Luftwaffenbasis) in Sawatija bei Kotlas mit 2 Abfangjägerstaffeln zu je 6 Su-27S und 3 Abfangjägerstaffeln mit je 8 MiG-31B, die 6964. AB in Montschegorsk mit 3 Abfangjägerstaffeln mit je 8 MiG-31BS, 3 Frontbomberstaffeln mit je 8 Su-24M und 3 Aufklärungsstaffeln mit insgesamt 20 Su-24MR, die 6961. AB in Bessowez bei Petrosawodsk mit mindestens 4 Abfangjägerstaffeln mit je 6 Su-27S, die 6967. AB in Tschkalowsk mit wenigstens 4 Abfangjägerstaffeln a 6 Su-27 und die 6962. AB in Tschernjachowsk mit 3 Frontbomberstaffeln zu jeweils 8 Su-24M.
Abweichend hiervon waren nach Angaben des früheren NVA-Oberst Dieter Stammer 2010 folgende Verbände der Luftwaffe mit dem Mehrzweckkampfflugzeug Su-27 FLANKER ausgerüstet: die 2. Fliegergruppe in Petrosawodsk, die 4. Fliegergruppe in Khotlilowo und die 7. Fliegergruppe in Tschkalowsk, einem Stadtteil von Kaliningrad.
Seit April 2012 ist in der Enklave Kaliningrad auch das Raketenabwehrsystem S-400 TRIUMF stationiert. Anders als bei der Bundeswehr gehören die Fallschirmjäger in Russland zu den Luftstreitkräften. Die 76. Garde-Luftlandesturmdivision ist mit mindestens 5.000 Fallschirmspringern in Pskow stationiert.
Das Hauptquartier der russischen Marine verlegte im Oktober 2012 von Moskau nach Sankt Petersburg. In der Ostsee ist die Baltische Flotte mit Hauptquartier in Kaliningrad disloziert. Die Flotte verfügt über 5 Zerstörer oder Fregatten, 20 Korvetten oder Patrouillenboote, 2 U-Boote mit Dieselantrieb. Zu den Unterwasserkräften der Baltischen Flotte zählen die 123. U-Boot-Abteilung (Kronstadt), die 313. Versorgungsgruppe für Unterwasserkleinkampfmittel (Baltijsk) und die 473. Versorgungsgruppe für Unterwasserkleinkampfmittel (Kronstadt). Hinzu kommen die Marineflieger mit 70 Flugzeugen und 50 Hubschraubern. So ist das 689. Garde-Jagdfliegergeschwader der Marineflieger mit Su-27 FLANKER in der Enklave Kaliningrad (Niwenskoje oder Tschkalowsk) disloziert. Zu den amphibischen Bodentruppen zählen die 61. Selbstständige Marineinfanteriebrigade (Sputnik/Pechenga), die 336. Selbstständige Marineinfanteriebrigade (Baltijsk-Metschnikowo) und das 7. Selbstständige MotSchützenregiment der Marineinfanterie (Kaliningrad).
Außerdem führten die russischen Streitkräfte in den letzten Jahren im Westen des Landes mehrere Großmanöver durch: LAGODA (2009, 2012), ZAPAD (2009, 2013), etc.. Seit Dezember 2014 haben die russischen Streitkräfte nach Angaben von Verteidigungsminister Sergej Schoigu landesweit fast 900 Militärübungen durchgeführt.
Norwegen, Schweden und Finnland fühlen sich durch diese Aufrüstung - berechtigt oder nicht - bedroht. Somit trägt die Politik des Kreml selbst dazu bei, Schweden und Finnland in die Arme der NATO zu treiben. Militärbeobachter halten einen NATO-Beitritt der beiden Staaten innerhalb von zehn Jahren für realistisch, es sei denn, Russland würde ausgerechnet durch einen Präventivkrieg diese Bündnisbestrebungen durchkreuzen. Dies würde aber - in der ein oder anderen Form - zu einer militärpolitischen Reaktion zumindest der EU führen.
Daher halten die meisten Beobachter einen militärischen Angriff für unwahrscheinlich. Eher möglich sei eine "hybride Kriegführung" unterhalb der Schwelle eines konventionellen Waffeneinsatzes durch eine moderne Diversionspolitik: Subversion, politische Gewalt und Propaganda verbunden mit militärischem Druck.
Nur einzelne Autoren, wie der frühere Wirtschaftsberater des russischen Präsidenten Andrej Illarionow, der jetzt für das neoliberale Cato-Institut in Washington arbeitet, warnen, der Kreml verfolge weitergehende Eroberungspläne: "Putin beansprucht Teile Georgiens, Weißrussland, die baltischen Staaten und Finnland." Noch lässt sich gar nicht absehen, wie "moderne Kriegführung" im arktischen Bereich tatsächlich aussehen würde.
Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit.