"Die Diskussion über Atomwaffen ist von Legenden und Mythen bestimmt"

Seite 3: Das Abschreckungskonzept kann nach seiner eigenen "Logik" nicht funktionieren

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Sie sind Mitglied bei IALANA Deutschland, einem Zusammenschluss von Juristen, die sich gegen Atomwaffen einsetzen. Warum dieser Einsatz?

Dieter Deiseroth: Eine Veränderung zum Besseren kommt nicht von allein. Sie muss erstritten werden. Das erfordert ein vielfältiges Engagement. Man muss dabei die Menschen dort "abholen", wo sie sich befinden und sie mit ihren Argumenten ernst nehmen, aber nicht allein lassen.

Lassen Sie mich das an Hand einer Reaktion erläutern, die mich kürzlich von einem von mir sehr geschätzten, inzwischen pensionierten Juraprofessor der Berliner Humboldt-Universität erreichte, den ich um seine Unterschrift unter einen internationalen Aufruf zur Unterstützung der New Yorker Verhandlungen über den Atomwaffen-Verbotsvertrag gebeten hatte.

Er schrieb mir: "Es wäre schön, in einer Welt ohne Atomwaffen leben zu können. Leider ist die Welt so, wie sie ist. Solange es Staaten gibt, die fröhlich Verträge wie den Atomwaffensperrvertrag unterschreiben und weiterhin an Atomwaffen basteln, ist es mir nicht ganz unlieb, dass es Natostaaten gibt, die Atomwaffen haben und bis heute einigermaßen verantwortungsvoll damit umgehen. Deshalb kann ich mich der von Ihnen beschriebenen Position der Nato nicht von vornherein verschließen. Also teile ich Ihnen mit einem nur halb schlechten Gewissen mit, dass ich nicht unterschreibe."

Diese Reaktion entspricht einer weit verbreiteten Einstellung in der Bevölkerung, gerade auch unter Juristinnen und Juristen. Dabei beruhen alle ihre Grundannahmen auf Fehlinformationen. Damit muss man sich ernsthaft auseinandersetzen.

Welche Fehlannahmen meinen Sie vor allem?

Dieter Deiseroth: Lassen Sie mich dazu drei Punkte herausgreifen. Zum Einen: Konstitutiver Bestandteil für ein "Funktionieren" der Abschreckungs-"Logik" aller Atomwaffenstaaten, auch der NATO und ihrer Mitgliedsstaaten, ist denknotwendig stets, dass man es mit einem rational kalkulierenden Gegner zu tun hat, der auf der Basis hinreichender und ihm auch ad hoc zur Verfügung stehender Informationen ausschließlich rationale Entscheidungen trifft.

Das Abschreckungskonzept kann mithin schon nach seiner eigenen "Logik" nicht funktionieren, wenn es um die Abschreckung eines "irrationalen" Gegners geht. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn dieser für "rationale" Argumente nicht zugänglich ist, also wenn er - aus welchen Gründen auch immer - zur Benutzung rationaler Abwägungskalküle nicht imstande oder nicht willens ist.

Und Ihre anderen Gegenargumente?

Dieter Deiseroth: Auch dann, wenn man es mit einem prinzipiell "rationalen Gegner" zu tun hat, ist die Funktionsfähigkeit der nuklearen (wie auch der sogenannten konventionellen) Abschreckung davon abhängig, dass diesem Gegner nach den konkreten Umständen hinreichende zeitliche und informatorische Kapazitäten zur Verfügung stehen, um kritische Entscheidungssituationen in dem erforderlichen Maß abzuschätzen und beurteilen zu können sowie hieraus in der zur Verfügung stehenden knappen Zeit verantwortliche Folgerungen zu ziehen. Es ist äußerst fraglich und ungewiss, dass dies - wenn es für das Überleben der Menschheit darauf ankommt - der Fall ist.

Die Abschreckungs-"Logik" funktioniert - drittens - auch dann nicht und stößt an gefährliche Grenzen, wenn menschliche Fehleinschätzungen oder "technisches Versagen" wirksam werden. Dies ist etwa der Fall, wenn sich elektronische Fehlinformationen in Kommunikationssysteme einschleichen oder andere Defekte dort wirksam werden, die es für die jeweils andere Seite angesichts sehr kurzer Vorwarnzeiten sehr schwer oder sogar unmöglich machen, sicher zu diagnostizieren ob in der konkreten Entscheidungssituation die z.B. aus den Computersystemen verfügbaren Daten auf einen gegnerischen Angriff schließen lassen oder nicht.

Und schließlich: Auch gegen solche terroristischen Gruppen oder Selbstmordtäter, die vor einem Einsatz nuklearer Explosivstoffe und vor dem eigenen Tod nicht zurückschrecken, hilft keine nukleare Abschreckung.

Wie lautet Ihre Alternative?

Dieter Deiseroth: Die sog. Palme-Kommission, an der neunzehn bedeutende Politiker und Fachleute aus Ost und West, Nord und Süd, darunter der frühere deutsche Bundesminister und Abrüstungsexperte Egon Bahr, mitgewirkt haben, hat Anfang der 1980er Jahre in der Hochphase des Kalten Krieges die lebensbedrohlichen Konsequenzen der Abschreckungsdoktrin eingehend analysiert und daraus bemerkenswerte Schlussfolgerungen gezogen, die sie in einem Alternativ-Konzept "gemeinsamer Sicherheit" zusammen gefasst hat: "In der heutigen Zeit kann Sicherheit nicht einseitig erlangt werden. Wir leben in einer Welt, deren politische, ökonomische, kulturelle und vor allem militärische Strukturen in zunehmendem Maße voneinander abhängig sind. Die Sicherheit der eigenen Nation lässt sich nicht auf Kosten anderer Nationen erkaufen."

Im nuklearen Zeitalter der gegenseitig gesicherten Zerstörung ist Sicherheit deshalb nicht mehr vor dem potentiellen Gegner, sondern nur noch mit ihm zu erreichen. Gemeinsame Sicherheit bewirkt Entspannung und braucht Entspannung. Sie zielt auf die Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen und eine drastische Verringerung und Umstrukturierung der konventionellen Streitkräfte bis hin zur beiderseitigen strukturellen Angriffsunfähigkeit.