Die Doppelrolle der Bürokratie: Warum Unternehmen sie auch lieben können
Von Gender Pay Gap bis Kurzarbeit - die deutsche Wirtschaft lehnt Bürokratiemonster nicht per se ab, sondern fordert sie mitunter ein. Über ein zwiespältiges Verhältnis.
Der Abbau von Bürokratie ist eine Forderung, die häufig von Wirtschaftsvertretern erhoben wird. Für Deutschland werde die Bürokratie zu einem entscheidenden Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung, betont etwa Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Die Ampel-Koalition regle gerne alles bis ins Detail, Deutschland müsse aber einfacher werden, sagte er.
Die Bundesregierung müsse die Bürokratie eindämmen, forderte auch die Berliner "Stiftung Familienunternehmen und Politik". Sie hat mehrere Persönlichkeiten aus der Wirtschaft zu Wort kommen lassen. Für die Stihl Holding erklärte Nikolas Stihl: "Wir stehen weiterhin zum Standort Deutschland. Aber: Einen Standort in Deutschland muss man sich heute leisten können".
Die Lobbyisten der Kapitaleigner verschweigen dabei, dass Unternehmen ein Interesse an Bürokratie haben können. Ein Beispiel dafür ist die "Brückenteilzeit", die ab 2019 im Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) gesetzlich verankert ist: Beschäftigte können unter bestimmten Voraussetzungen ihre Arbeitszeit für einen bestimmten Zeitraum reduzieren, um danach wieder zur ursprünglichen Arbeitszeit zurückzukehren.
Der Vorteil für die Beschäftigten liegt darin, dass die Teilzeit nicht gleich auf Dauer beantragt werden muss, da mit der reduzierten Arbeitszeit auch ein geringeres Arbeitsentgelt verbunden ist und Teilzeitarbeit somit ein finanzielles Risiko darstellt.
Experten sprechen von einer "Teilzeitfalle", da in vielen Betrieben Beschäftigte mit reduzierter Arbeitszeit schlechtere Aufstiegschancen haben oder auf anspruchsvolle Qualifizierungsmaßnahmen verzichten müssen. Eine Wahlkampfforderung der SPD war es daher, eine Art Testphase zu ermöglichen, in der Beschäftigte Teilzeit ausprobieren können und nach einem beantragten Zeitraum automatisch wieder in Vollzeit zurückkehren. Der beantragte Zeitraum muss mindestens ein Jahr und darf höchstens fünf Jahre betragen.
Die erste Idee für eine Gesetzesänderung stieß auf heftigen Widerstand der Unternehmensvertreter. Ein Recht auf Teilzeit mit Rückkehroption ohne bürokratische Einschränkungen war für sie nicht akzeptabel. Als Kompromiss bot die Regierung an, die Rechte der Arbeitnehmer einzuschränken, sodass § 9a Abs. 2 Teilzeit- und Befristungsgesetz wie folgt lautet:
Der Arbeitgeber kann das Verlangen des Arbeitnehmers nach Verringerung der Arbeitszeit ablehnen, soweit betriebliche Gründe entgegenstehen; § 8 Absatz 4 gilt entsprechend. Ein Arbeitgeber, der in der Regel mehr als 45, aber nicht mehr als 200 Arbeitnehmer beschäftigt, kann das Verlangen eines Arbeitnehmers auch ablehnen, wenn zum Zeitpunkt des begehrten Beginns der verringerten Arbeitszeit bei einer Arbeitnehmerzahl von in der Regel
- mehr als 45 bis 60 bereits mindestens vier,
- mehr als 60 bis 75 bereits mindestens fünf,
- mehr als 75 bis 90 bereits mindestens sechs,
- mehr als 90 bis 105 bereits mindestens sieben,
- mehr als 105 bis 120 bereits mindestens acht,
- mehr als 120 bis 135 bereits mindestens neun,
- mehr als 135 bis 150 bereits mindestens zehn,
- mehr als 150 bis 165 bereits mindestens elf,
- mehr als 165 bis 180 bereits mindestens zwölf,
- mehr als 180 bis 195 bereits mindestens 13,
- mehr als 195 bis 200 bereits mindestens 14
andere Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit nach Absatz 1 verringert haben.
Die Linkspartei kritisierte daher bereits bei der Vorlage des Gesetzentwurfs, dass die Neuregelung für einen Großteil der Beschäftigten gar nicht gelte:
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der erst für Betriebe ab 45 Beschäftigten ein Rückkehrrecht in Vollzeit vorsieht, bringt einem großen Teil der Beschäftigten nichts. 14,4 Millionen Beschäftigte (38 Prozent aller Beschäftigten) arbeiten in einem Betrieb mit bis zu 45 Beschäftigten. Davon arbeitet nahezu jeder zweite (6,6 Millionen) Beschäftigte bereits jetzt in Teilzeit. Im Gastgewerbe arbeiten 800.000 der Beschäftigten in Betrieben bis zu 45 Beschäftigten in einem Teilzeitarbeitsverhältnis, das sind mehr als zwei Drittel. Im Gesundheits- und Sozialwesen sind es 900.000 (58 Prozent der Gesamtbeschäftigung in dieser Betriebsgröße) und im Bereich Erziehung und Unterricht mit 320.000 sind es 60 Prozent der Beschäftigten.
Im Gesetz heißt es nun: "Der Arbeitnehmer hat nur dann einen Anspruch auf zeitlich begrenzte Verringerung der Arbeitszeit, wenn der Arbeitgeber in der Regel mehr als 45 Arbeitnehmer beschäftigt."
Ein weiteres Beispiel ist das Entgelttransparenzgesetz. Es soll der Gleichbehandlung von Frauen und Männern bei der Entlohnung dienen und ist seit Juli 2017 in Kraft. Hier wären einfache Lösungen möglich - zum Beispiel, dass eine Arbeitnehmerin von der Personalabteilung Auskunft darüber erhalten kann, wie weit ihr Gehalt von dem der Männer in vergleichbaren Positionen abweicht. Unternehmenslobbyisten haben durchgesetzt, dass § 11 Abs. 3 des Entgelttransparenzgesetzes wie folgt lautet:
Das Vergleichsentgelt ist anzugeben als auf Vollzeitäquivalente hochgerechneter statistischer Median des durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelts sowie der benannten Entgeltbestandteile, jeweils bezogen auf ein Kalenderjahr
Und mit besonderer Umständlichkeit und großer bürokratischer Fantasie wird in § 12 Entgelttransparenzgesetz vorgeschrieben, dass "das Vergleichsentgelt nicht anzugeben, wenn die Vergleichstätigkeit von weniger als sechs Beschäftigten des jeweils anderen Geschlechts ausgeübt wird".
Diese Bürokratie arbeitet im Interesse der Unternehmen, wie eine Bilanz der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes zeigt. Eine der Kernaussagen:
In der Mehrheit der privaten Betriebe mit Betriebsrat, in denen Beschäftigte den gesetzlichen Auskunftsanspruch haben, hat zwischen 2019 und 2021 niemand diesen Anspruch genutzt
Um die bislang geringe Wirkung des Gesetzes zu erhöhen, seien niedrigere Hürden bei der Wahrnehmung des Transparenzanspruchs nötig, schreiben die Wissenschaftler Helge Emmler und Christina Klenner: "Gerade in Deutschland mit seinem hohen Gender Pay Gap erscheint das dringlich".
Deutsche Unternehmen haben sich entschieden, sich global zu organisieren, Arbeiten an Zulieferer auszulagern und Lagerbestände durch Just-in-time-Produktion zu reduzieren. Welche Folgen dies haben kann, hat nicht zuletzt die Corona-Pandemie jedem Zeitungsleser vor Augen geführt, als z. B. ein geschlossener chinesischer Hafen zu Produktionsausfällen hierzulande führte.
Auch heute ist die Situation kritisch: Ein aktuelles Beispiel sind die Folgen der schweren Unwetter in Slowenien. Durch den Teilemangel nach den Überschwemmungen verschärft sich die Versorgungslage in der Automobilindustrie.
"Am sichtbarsten sind die Auswirkungen im Volkswagen-Konzern, wo es in diesem Monat an mehreren Standorten zu Produktionsunterbrechungen und Kurzarbeit kommt. Betroffen sind derzeit die Marken Audi, VW Pkw, VW Nutzfahrzeuge, Skoda und Seat sowie Bereiche der Komponentenfertigung", berichtet das Handelsblatt.
Kurzarbeit senkt die Lohnkosten – und die Unternehmen scheuen sich nicht, der Agentur für Arbeit die Mitarbeiter und die Gründe für den Arbeitsausfall zu melden. Denn die Bürokratie dient dazu, unternehmerische Fehlentscheidungen zulasten der Sozialkassen ausgleichen zu lassen, die mit den Beiträgen der Beschäftigten aller Unternehmen hierzulande finanziert werden.
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