Die EU-Verfassung: Ein demokratisches Paradestück?
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft will die gescheiterte und weiterhin unbeliebte EU-Verfassung wieder in die Gänge kriegen
In Deutschland haben die Volksvertreter im Mai 2005 über ein wegweisendes Dokument abgestimmt, das im Zweifel über dem Grundgesetz steht: Die EU-Verfassung. Wie eine Sendung des Fernsehmagazins Panorama damals herausfand, hatten viele Abgeordnete die Verfassung nicht einmal gelesen. Dennoch stimmten 95 Prozent der deutschen Parlamentarier für dieses grundlegende Dokument. Nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden war diese Verfassung Europas eigentlich tot. Nun will die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sie wiederbeleben.
Wenn in einem halben Jahr die deutsche EU-Ratspräsidentschaft zu Ende geht, soll der Fahrplan für die EU-Verfassung – oder wie auch immer sie dann heißen mag – feststehen. Das ist das selbst gesteckte Ziel der Bundesregierung und darauf hoffen auch die anderen EU-Mitgliedsländer.
"Wir stehen zum Europäischen Verfassungsvertrag", verkündete die Bundesregierung demonstrativ schon in ihrem Koalitionsvertrag vom November 2005. Damals war das Nein zur Verfassung in Frankreich und den Niederlanden noch nicht einmal ein halbes Jahr alt und die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union befanden sich mitten in einer selbstauferlegten "Phase des Nachdenkens" (Das Europa der Bürger). Man wolle Europa seinen Bürgern wieder näher bringen, bekannten die Regierungen der Mitgliedsstaaten und die Politikfunktionäre in Brüssel. Die Kritik vieler Verfassungsgegner am unsozialen, militärischen und undemokratischen Charakter der Verfassung und ihrer Entstehungsgeschichte sollte dabei keine Rolle spielen. Nachgedacht wurde darüber, wie die Verfassung bzw. ihre wesentlichen Inhalte auch trotz der beiden gescheiterten Referenden in Kraft gesetzt werden können.(Brüssler Betroffenheit).
Während der Nachdenkphase wurde fleißig weiter ratifiziert – frei nach dem Motto: Die Ablehnung der Verfassung ist ein Missverständnis, das durch Vermittlungsprobleme zustande gekommen ist. Ein Jahr nach dem Nein in Frankreich und den Niederlanden stimmte das finnische Parlament kurz vor der Übernahme seiner Ratspräsidentschaft im Juni 2006 demonstrativ für die Verfassung, die sie im Dezember erst ratifizierte. Dabei hatte eine Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstitutes Gallup herausgefunden, dass nur einer von fünf Finnen die Ratifizierung im Parlament für richtig hielt. Auch Umfragen in Frankreich und den Niederlanden ein Jahr nach den Referenden ergaben, dass sich das Lager der Verfassungsgegner sogar noch vergrößert hatte.
Die Verfassungsbefürworter, allen voran die deutsche Bundesregierung, verweisen darauf, dass bereits 18 Mitgliedsländer dem Verfassungsvertrag zugestimmt hätten. Davon waren jedoch 16 reine Parlamentsentscheidungen, so wie in Deutschland auch.
Und die zwei positiven Referenden in Luxemburg und Spanien waren auch kein Grund zum Jubel. Die Spanier hatten bereits Anfang 2005 abgestimmt. Gerade einmal 42 Prozent der Bevölkerung machten ihr Kreuzchen. Es war die niedrigste Beteiligung an einer Wahl seit dem Ende der Franco-Diktatur. In Luxemburg fand das Referendum einen Monat nach denen in Frankreich und den Niederlanden statt, denn den Sieg der Verfassungsbefürworter im reichsten EU-Land schätzten alle als sicher ein. Aber das Resultat fiel weit hinter die Erwartungen zurück. Sogar in dem traditionell europa-freundlichen Land stimmten mehr als 43 Prozent gegen den Verfassungsvertrag, vor allem die Arbeiter in den Industriegebieten im südlichen Teil des Großherzogtums.
Mit reiner Arithmetik soll also die Verfassung legitimiert werden. Und die Franzosen und Niederländer? Klar ist, dass man ihnen nicht noch einmal den gleichen Text zur Abstimmung vorlegen kann. Deshalb kann es sein, dass nur die ersten beiden Teile der Verfassung zur Abstimmung als "Mini-Vertrag" vorgelegt werden - gegebenenfalls ergänzt durch eine unverbindliche, aber wohlfeil formulierte "Erklärung zur sozialen Dimension" Europas. Teil III und damit einer der umstrittensten Teile der Verfassung würde wie üblich als Vertrag unter den EU-Regierungen ausgehandelt – also "ohne polarisierende Plebiszite bemühen zu müssen", wie es Werner Weidenfeld von der einflussreichen Bertelsmann-Denkfabrik "Centrum für angewandte Politikforschung" entlarvend formulierte.
Für den weiteren Fahrplan, soviel steht fest, muss Bundeskanzlerin Angela Merkel die französischen Präsidentschaftswahlen in Frankreich abwarten. Denn die beiden Präsidentschaftskandidaten der großen Parteien, Ségolène Royal und Nicolas Sarkozy, die beide für die Verfassung gestimmt hatten, wollen die nach wie vor unpopuläre EU-Verfassung nicht als prominentes Thema im Wahlkampf haben. Aber danach werden die Karten neu gemischt. Denn in Frankreich ist das Ergebnis des Referendums rechtlich nicht bindend. Dort hat sich nur der amtierende Präsident Jacques Chirac persönlich dem Ergebnis unterworfen. Also muss sich die Bundesregierung bis zum Ausgang der französischen Präsidentschaftswahlen Anfang Juni gedulden, bevor sie alten Wein in neuen Schläuchen präsentieren kann.
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