Die Erfindung des Terrorismus

Seite 3: "Der islamistische Terrorismus ist auf ganzer Linie anti-westlich"

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Nach dem Ende des Kalten Krieges sah es für einen kurzen historischen Moment so aus, als hätte sich der Terrorismus verabschiedet. Spätestens seit 9/11 ist klar, dass dies eine Illusion war. Können Sie Unterschiede zwischen dem von Ihnen analysierten Terrorismus und dem des politischen Islam ausmachen?

Carola Dietze: Bei der Beantwortung dieser Frage möchte ich lieber mit den Gemeinsamkeiten anfangen, denn der Terrorismus des politischen Islam wird typischerweise dem politisch säkularen Terrorismus gegenübergestellt, wie man ihn in Europa zuletzt von der RAF, der IRA oder der ETA her kannte.

Ich möchte diese Gegenüberstellung ein Stück weit in Frage stellen, weil man zeigen kann, dass es sich bei beiden Arten von Terrorismus vielfach um ein Amalgam religiöser und politischer Motive handelt. Insofern unterscheidet sich der islamistische Terrorismus vor allem durch seine politischen Ziele von dem Terrorismus, den ich für das 19. Jahrhundert untersucht habe und den man in Europa bis in die Achtziger Jahre kannte: Der islamistische Terrorismus ist auf ganzer Linie anti-westlich.

Er wendet sich gegen den Nationalstaat und gegen die Ziele der Aufklärung, ähnelt aber wiederum dem europäischen Terrorismus insofern, als es sich auch bei dieser Form von Terrorismus um eine Infragestellung politischer Legitimität handelt, die aber global in Bezug auf den gesamten Westen gedacht werden muss.

Liegt nicht ein weiterer Unterschied bei den Attentaten des Islam darin, dass es sich in der Regel um Selbstmordattentate handelt, wobei die Ausführenden davon ausgehen, durch ihre Handlung ins Paradies zu kommen?

Carola Dietze: Davon gehen eher die Ausführenden als die Organisatoren dieses Terrorismus aus. Insofern muss man noch miteinbeziehen, dass es hier veränderte organisatorische Strukturen gibt, nämlich eine politische Führung, die die Attentäter heranzieht. Dabei werden die Attentäter mit ganz unterschiedlichen Motiven überzeugt und gewonnen. In der Analyse lohnt es sich hier, sich auf die politisch maßgeblichen Personen zu konzentrieren, wie ich dies auch für das 19. Jahrhundert getan habe.

Können Sie einschätzen, ob beim islamistischen Terrorismus die Religion tatsächlich eine wesentliche Rolle spielt oder ist diese ein soziales und politisches Chiffre?

Carola Dietze: Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich auf die Forschungen von Mark Sedgwick zurück greifen. Er hat die ägyptische Muslimbrüderschaft untersucht, aus der einige Köpfe hervorgegangen sind, die für die Entstehung des islamistischen Terrorismus entscheidend waren: Für einige dieser Führungsfiguren zeigt Sedgwick nun, dass sie die Religion klar für ihre politischen Ziele instrumentalisierten. Personen, die innerhalb der Muslimbrüderschaft zeitweise auf den Terrorismus gesetzt haben, haben also ganz bewusst die Religion als Motivation für breitere Bevölkerungsgruppen herangezogen, um sie zu radikalisieren.

"Fehlen einer funktionierenden globalen politischen Ordnung"

Wie ordnen Sie die islamistische Renaissance des Terrorismus in die bisherige Terrorismusgeschichte ein?

Carola Dietze: Diese Renaissance ist leider eine logische Folge der historischen Entwicklung im Mittleren und Nahen Osten im 20. Jahrhundert, wo nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches die Kolonialregierungen und später auch die Versuche eigener Regierungen, moderne Wege zu gehen - man denke an Nassers Version des Sozialismus -, für die breite Bevölkerung insgesamt zu wenig Verbesserungen gebracht haben. Deshalb haben diese Wege für viele Menschen dort an Überzeugungskraft verloren.

Hinzu kommt, dass den Interventionen der westlichen Welt im Nahen und Mittleren Osten in den Augen der Bevölkerung dort die politische Legitimation fehlte oder aber angesichts der Durchführung dieser Interventionen immer mehr abhanden kam, sowie das Fehlen einer funktionierenden globalen politischen Ordnung, die außerhalb der westlichen Länder mehrheitlich als legitim anerkannt wird.

Vor diesem politischen Hintergrund ist meines Erachtens die momentan stattfindende Entwicklung des politischen Islam zu interpretieren.

Lesen Sie dazu auch den in Telepolis erschienenen Literaturklassiker von Gilbert Keith Chesterton: Der Mann, der Donnerstag war - ein Albtraum

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