Die Erfindung des Terrorismus

Seite 2: Attentat auf Napoleon III. wurde zum Präzedenzfall für die terroristische Logik

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Sie untersuchen in Ihrem Buch zur Entstehung des Terrorismus eine relativ kurze Zeitspanne von 1856 bis 1866. Wie konnte sich binnen dieser acht Jahre die terroristische Handlungslogik etablieren?

Carola Dietze: Durch den schon angesprochenen transnationalen seriell-kollektiven Lernprozess. Dieser Lernprozess begann mit der eigentlich sehr unwahrscheinlichen Kooperation eines Opfers mit seinem Attentäter: Das war die Kooperation des französischen Kaisers Napoleon III. mit dem italienischen Revolutionär Felice Orsini.

Orsini beging mitten in Paris ein äußerst spektakuläres Attentat auf Napoleon III., das eine Revolution in Frankreich auslösen sollte, von der er annahm, dass sie in der Folge auf die italienischen Staaten und ganz Europa überspringen werde - ähnlich wie dies 1830/31 und 1848/49 geschehen war. Mit Hilfe dieser Revolution, so hofften Orsini und seine Mitverschwörer, würde man endlich die auf dem Wiener Kongress etablierte Ordnung der absolutistischen Staatenwelt abschütteln und Italien als eine demokratische Nation errichten können.

Das Attentat misslang jedoch insofern, als Napoleon III. es überlebte, die Pariser Polizei Orsini und seine Mitverschwörer noch in der gleichen Nacht festnehmen und ins Gefängnis stecken konnte, und die Bevölkerung in Frankreich ruhig blieb. Wären die Attentäter damals wie üblich vor Gericht gestellt und hingerichtet worden, wäre ihre Tat nicht zum Auslöser für den seriell-kollektiven Lernprozess geworden, der die Taktik des Terrorismus hervorbrachte. Nachdem der erste Schock vorbei war, entschied sich jedoch Napoleon III. völlig unerwartet, Orsini und seine Tat zur Legitimation einer militärischen Intervention in Italien zu benutzen. Deshalb gab er Orsini alle Mittel an die Hand, sich vor Gericht positiv zu präsentieren und in Szene zu setzen und seine Motive für die Gewalttat zu erklären.

Diese Erklärungen wurden dann auch noch in der offiziellen französischen Presse veröffentlicht und von Zeitungen in den meisten Ländern Europas sowie auch in Russland und den USA übernommen. Das führte dazu, dass Orsini von vielen Menschen in Italien, Frankreich und Großbritannien als Held und Märtyrer gefeiert wurde.

Dieser Fall wurde eine Art Präzedenzfall: Andere Aktivisten in anderen Ländern, die in den Zeitungen von Orsinis Anschlag lasen, verstanden das Prinzip, erkannten also, wie die terroristische Logik funktioniert, ahmten die Taktik mit mehr oder weniger Erfolg nach und entwickelten sie dabei weiter. Der erste, der als Aktivist das Potential dieser Taktik erkannte, war John Brown in den USA, der für die Emanzipation der Sklaven in den Südstaaten eintrat.

"Die beiden Erfinder Orsini und Brown waren mit der von ihnen eingesetzten Gewalt letztlich erfolgreich"

Was hat der Terrorismus in diesen Jahren politisch und sozial verändert?

Carola Dietze: Nun, Orsinis Attentat stieß einen politischen Prozess an, der über die militärische Intervention Napoleons III. und einige weitere Schritte Anfang 1861 tatsächlich zur Vereinigung der italienischen Staaten und zur Bildung einer italienischen Nation führte. Dies war genau das Ziel, für das Orsini sein Leben lang gekämpft hatte, nur dass dieses Italien zunächst keine Republik wurde, sondern eine Monarchie blieb. Der Gewaltakt von John Brown in den USA war ein entscheidender Schritt hin zum Amerikanischen Bürgerkrieg, der tatsächlich zur Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten führte, die John Brown angestrebt hatte.

Die Ermordung Abraham Lincolns durch John Wilkes Booth

Von daher kann man sagen, dass diese beiden "Erfinder" mit der von ihnen eingesetzten Gewalt letztlich erfolgreich waren. Für die ersten Nachahmer von Orsini und Brown ist dies dagegen nicht so leicht festzustellen. Bei der Tat von Oskar Wilhelm Becker lässt sich nur spekulieren, ob sie politische Auswirkungen hatte und - wenn ja - welche. Eventuell trug sein terroristisches Attentat dazu bei, dass sich Wilhelm I. entschied, Bismarck zu berufen.

In den USA hat das Attentat auf Lincoln und dessen Tod den Verlauf der Rekonstruktion der Südstaaten ganz entscheidend verändert, und zwar vermutlich wirklich - wie von Booth intendiert - zum Nachteil der emanzipierten Sklaven. Allerdings ist es schwer zu sagen, wie die Rekonstruktion genau unter einem Präsidenten Lincoln verlaufen wäre.

Und in Russland führte das Attentat von Karakozov zum Abbruch der Reformen, die Alexander II. gerade durchführte und die Karakozov - was die Situation der ehemaligen Leibeigenen betraf - nicht weit genug gegangen waren.

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