Die Hartz-IV-Gesetze sind die Arbeitshäuser des 21. Jahrhunderts

Zum 1. April 2015 soll das Hartz-IV-Gesetz verschärft werden. Armut soll damit weiterhin als abschreckendes Beispiel dienen

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Haben Sie keine Erwerbsarbeit? Früher hätte das ungemütliche Konsequenzen haben können: 1589 wurde in Amsterdam eines der ersten sogenannten "Arbeitshäuser" eröffnet, um die "Abneigung gegen Arbeit zu kurieren". Die Heilmethoden waren alles andere als homöopathisch: Die Müßiggänger sperrte man in ein Verlies, in das man nach und nach Wasser füllte. Die im Wasser stehenden Gefangenen mussten ununterbrochen eine Pumpe betätigen, um sich vor dem Ertrinken zu retten. Mit dieser perversen Folter wollte man den Arbeitsunwilligen ihre Faulheit austreiben und ihnen hautnah demonstrieren, dass emsiges Arbeiten überlebensnotwendig sei. Die Menschen, die der Logik der Erwerbsarbeit in der aufkommenden kapitalistischen Gesellschaft nicht folgen wollten, wurden durch Gewalt zugerichtet und diszipliniert.

Die grausamen Arbeitshäuser verbreiteten sich schnell in ganz Europa; erst 1969 wurden sie in Deutschland abgeschafft. Nach Ronald Reagan und Margaret Thatcher dauerte es dann etwas, bis sich der Neoliberalismus auch in Deutschland vollends entfalten konnte. Am 1. Januar 2005 aber kam "Hartz IV". Seitdem leben Millionen Menschen mit dem ALG II, das bekanntermaßen weder zum Leben noch zum Sterben reicht. Selbst Menschen, die um jeden Preis arbeiten wollen, aber nicht können, bekommen das zu spüren. Ganz zu schweigen von denen, die durch Krankheit, Kündigung oder andere Schicksalsschläge in Hartz IV gestürzt sind.

Kurz nach der Einführung von Hartz IV drohte der damalige SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering mit den biblischen Worten Paulus’: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!" SPD und Grüne wussten damals genau, was sie taten. Nichts zieht so sehr den Volkszorn auf sich wie die (vermeintliche) Faulheit.

Mit der Drangsalierung der Arbeitslosen lässt sich prima Stimmung machen - und Wahlen gewinnen. Das geschieht auf vielerlei Wegen: Von Wirtschaft und Politik hören wir ständig das Gefasel von "Wachstum", "Wettbewerb" und "Standortsicherheit", um uns einzureden, dass wir "Gürtel enger schnallen" müssten, weil nur so "sichere Arbeitsplätze" möglich seien - alles andere sei "alternativlos". Eine Lohnerhöhung sei nicht drin, weil sonst die Firma pleitegehe. Wir dürften die Reichen nicht zu stark besteuern, weil sonst die "Leistungsträger" ins Ausland gingen. All diese Dinge werden Konsens - sogar bei den Erwerbstätigen selbst.

Untermauert wird dieser verheerende Konsens, indem massiv die reale Lage verdreht wird: Angeblich haben wir einen "Fachkräftemangel", zum Beispiel bei Ingenieuren, wie uns Lobby-Verbände und unkritisch abschreibende Medien weismachen wollen. Tatsächlich aber spricht die Bundesagentur für Arbeit von einem solchen Mangel, wenn auf eine Stelle drei Bewerber kommen - der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) sieht einen angeblichen Fachkräftemangel bei fünf Bewerbern pro freier Stelle. Die Wirtschaft will sich die Rosinen aus einem Überangebot an Bewerbern herauspicken, die anderen Bewerber fallen unter den Tisch - und schlimmstenfalls in Hartz IV. Und bei Hartz IV geht die Propaganda weiter: Jede BILD-Schlagzeile über vermeintliche "Sozialschmarotzer" und jede RTL-II-"Teenie-Mütter"-Folge untermauert die feindliche Stimmungslage gegen erwerbslose Menschen.

Seit der Einführung von Hartz IV stimmen 47,3 Prozent der Deutschen der Aussage zu, dass die meisten Arbeitslosen kaum daran interessiert seien, einen Job zu finden, wie das Forschungsprojekt "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" ermittelt hat. Aufschlussreich ist dabei die Feststellung, dass die Hetze gegen Arbeitslose und Arbeitsverweigerer mit dem Einkommen steigt. Wilhelm Heitmeyer, der Leiter des Projekts, sieht die Ursachen hierfür in einer "Ökonomisierung des Sozialen":

In der Selbstwahrnehmung der Vermögenden strotzen deren Biografien vor Effizienz, Nützlichkeit und Verwertbarkeit. Dazu kommen durch ihre Sozialisierung - etwa durch Abschottung, ihre Wohnlage - bestimmte Habitusmuster. Dazu gehört Gleichgültigkeit gegenüber Obdachlosen. Es gibt eine elitäre Parallelgesellschaft, in der ein eisiger Jargon der Verachtung herrscht und kaum Interesse an gesellschaftlichen Integrationsproblemen. Es gibt also keine Auseinandersetzung mit dem, was in unserer Gesellschaft geschieht. Es geht den Reichen bei ihrer Abschottung um die Sicherung ihres Status. Insofern gibt es sozusagen einen Klassenkampf von oben.

Wilhelm Heitmeyer

Feindbild des Arbeitslosen

Der Tenor der Reichen ist eindeutig: Jeder ist seines Glückes Schmied. Die so genannten sozial Schwachen müssen selbst schauen, wo sie bleiben und wie sie über die Runden kommen. Die Wohlhabenden grenzen sich ab vom Pöbel und ziehen sich zurück aus der Solidargemeinschaft. Aktuellstes Beispiel: Der FDP-Politiker Lars Lindemann fordert, dass Hartz IV-Empfänger aus der Innenstadt verschwinden und an den Stadtrand ziehen sollen, denn, so Lindemann: "Jemand, der von Sozialhilfe lebt, kann nicht denselben Anspruch haben, wie jemand, der sein Geld selbst verdient!"

Genau solche Sichtweisen führen dazu, dass bei Heitmeyers Studie 25,8 Prozent der Aussage zustimmen, "dass moralisches Verhalten ein Luxus ist, den wir uns nicht mehr leisten können". Folgerichtig sagen die Vermögenden ganz offenherzig, dass der Hartz IV-Regelsatz noch viel zu hoch sei. Schließlich handelt es sich um Staatsknete, also auch um die Einkommenssteuer der arbeitenden Bevölkerung. Diejenigen, die das Geld haben, sehen in den vermeintlichen Sozialschmarotzern eine ökonomische Konkurrenz ("Große Teile der bürgerlichen Mittelschicht sind dabei, sozial zu verrohen"). Was überaus lachhaft ist, trägt realpolitische Früchte. Die Mehrheit prügelt mit Sanktionen und scharfen Worten auf die Minderheit ein. Das victim blaming, die Opferschelte, erfüllt seinen Zweck. All das sind Strategien der Manipulation, um Menschen auf ihren bloßen Nutzen und Mehrwert zu reduzieren, oder passender: auf ihre Verwertbarkeit. Im Kampf "jeder gegen jeden" entsolidarisiert sich die Gesellschaft; gleichzeitig sollen die Menschen gesellschaftsfähig gemacht werden, was nichts anderes heißt, als sie auf Arbeit zu drillen. Wer diese soziale Selektion nicht mitmachen will oder kann, kommt schnell unter die Räder.

Zudem hat Hartz IV erfolgreich den Niedriglohnsektor etabliert: Nach dem Motto: "Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit" verdingen sich Millionen Beschäftigte für einen Hungerlohn und müssen mit Hartz IV aufstocken. Gleichzeitig werden damit diejenigen Unternehmen staatlich subventioniert, die die Hungerlöhne zahlen. Jeder vierte deutsche Beschäftige arbeitet mittlerweile im Niedriglohnbereich, das heißt er oder sie verdient weniger als 9,54 Euro brutto die Stunde. Wer ist davon konkret betroffen? Fast 90 Prozent der Taxifahrer arbeiten für einen Niedriglohn, nicht besser sieht es aus bei Friseuren und Kosmetikern (85,6 Prozent), Reinigungskräften (81,5 Prozent) oder in der Gastronomie (77,3 Prozent). Hätte das Statistische Bundesamt auch Studentinnen und Studenten und Kleinbetriebe mit weniger als zehn Beschäftigten erfasst (beide fallen aus der Statistik heraus), wären die Zahlen wohl noch alarmierender ausgefallen.

Das Feindbild des Arbeitslosen hat aber auch noch eine andere Funktion: Politik, Medien und Stammtische vergewissern sich ihrer vermeintlichen Überlegenheit, indem sie über die "faulen Nichtstuer" und "Sozialschmarotzer" hetzen. Der Hartz-IV-Empfänger bestätigt in seiner Funktion als Sündenbock den vermeintlich besseren Status desjenigen, der ihn beschimpft. Insofern untermauert und stützt die Armut den Status quo des Gesellschaftssystems: "Armut ist gewollt und bewusst erzeugt, weil sie die 'Aktivierung‘, Motivierung und Disziplinierung der Bevölkerungsmehrheit gewährleistet. Die (Angst vor der) Armut sichert den Fortbestand der bestehenden Herrschaftsverhältnisse", wie der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge feststellt.

Ab dem 1. April 2015 soll die Angst vor der Armut noch weiter wachsen

Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat seit Monaten an einer Reform des SGB II herumgebastelt, um die Arbeitslosen abermals zu schikanieren. Das Ganze lief unter dem schöngefärbten Titel "Rechtsvereinfachungen im Zweiten Sozialgesetzbuch", offiziell heißt es nun "Neuntes SGB II-Änderungsgesetz".

Unter den 36 geplanten Änderungen finden sich unter anderem diese abstrusen Punkte:

Menschen, die Hartz IV beziehen, sollen deutlich schlechtere Karten haben, wenn sie Verwaltungsvorgänge rückwirkend (nach § 44 SGB X) überprüfen lassen wollen, das soll dann "nur bei geänderter Rechtslage" und "neuen Beweismitteln" möglich sein. Ein Freifahrtschein für Willkürakte seitens der Jobcenter.

Es kommt noch schlimmer: Zum einen sieht der Entwurf eine Änderung des SGG 73 vor: "Einführung eines Vertretungszwangs auch für Beteiligte vor dem Landessozialgericht." Leistungsberechtigte sollen sich also künftig von einem Anwalt vertreten lassen müssen. Zum anderen droht eine Änderung des SGG 184 Abs. 3 sowie SGB X 64 Abs. 3 Satz 2: "Abschaffung der Pauschgebührenbefreiung für Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende im sozialgerichtlichen Verfahren." Und als Sahnehäubchen eine Änderung des SGG 183 sowie SGB X 64: "Einführung einer Gebühr für 1) Klage (SN) bzw. 2) Klage und Widerspruch (z.B. 20 Euro)."

Wovon soll man diese Gebühren und die Anwälte zahlen, wenn man am Existenzminimum lebt? Wer sagt, dass es bei 20 Euro bleibt? Und wie viel kostet erst ein Rechtsanwalt? Die geplante Reform verstößt eklatant gegen unseren sogenannten Rechtsstaat, in dem jeder und jede das Recht und die Möglichkeit haben müssen, den Rechtsweg einzuschlagen - auch gegen den Staat selbst. Man erinnere sich: Jeder dritten Klage gegen Hartz IV wird recht gegeben; und in 42 Prozent der Verfahren gegen Sanktionen wird zugunsten der klagenden Arbeitslosen entschieden. Es ist geradezu menschenverachtend, wenn das Hartz-IV-System nun auch noch die ohnehin schwer und langwierig zu öffnende Tür zum Gericht verriegeln will.

Darüber hinaus ist folgendes geplant: Die sogenannten "temporären Bedarfsgemeinschaften" (getrennt lebende Paare mit einem oder mehreren Kindern) sollen abgeschafft werden, um Verwaltungskosten zu sparen. Heißt: Die Jobcenter dürfen Leistungen für Kinder zusammenkürzen, wenn diese beispielsweise ein Wochenende im Monat beim anderen Elternteil verbringen. (Die Berechnung würde vermutlich so aussehen: Monatssatz für ein Kind von X Euro, geteilt durch 30 Tage, multipliziert mit den Aufenthaltstagen beim anderen Elternteil.)

All das würde, erstens, zu einer noch drastischeren Überwachung der Hartz-IV-Bezieher führen, wenn nicht nur mehr die Zahnbürsten und Bettlaken in den Privaträumen überprüft werden, sondern auch noch die private Terminplanung. Zweitens ist es hanebüchen, dass ein Elternteil massiv Geld spart, wenn das Kind für ein Wochenende woanders übernachtet: Kleidung, Hausrat und Schulsachen wollen trotzdem bezahlt werden.

Ebenso drastisch ist der Vorschlag der Bundeagentur für Arbeit, den Mehrbedarfsanspruch für Alleinerziehende zu kürzen, der momentan durchschnittlich bei 130 Euro monatlich liegt. Die Bundesagentur für Arbeit schreibt hierzu:

"Ziel: Es erfolgt eine Korrektur von Fehlanreizen. Die Erwerbstätigenquote liegt bei Alleinerziehenden bundesweit bei rund 60%. Alleinerziehende im Leistungsbezug nach dem SGB II sind hingegen oft schwer beruflich zu integrieren. Lösungsvorschlag: Der Mehrbedarf für Alleinerziehende wird zukünftig nur noch gewährt, wenn die/der erwerbsfähige Leistungsberechtigte eine Erwerbstätigkeit ausübt oder an einer Maßnahme zur beruflichen Qualifizierung bzw. Eingliederung in Beschäftigung teilnimmt und für den gleichen Zeitraum Arbeitslosengeld II zu beanspruchen hat.