"Die Illusionen in der Ukraine waren erheblich"

Seite 4: "Grund für Russlands Eingreifen auf der Krim waren geostrategische Überlegungen"

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An der Stelle können wir auf das Stichwort Krim zu sprechen kommen. Es heißt ja häufig, es ging dabei um Sewastopol und die russische Schwarzmeerflotte. Sind Sie auch der Meinung, dass das der Grund war, warum Russland nach dem Machtwechsel in Kiew seine Soldaten auf der Krim ausrücken ließ?

Manfred Schünemann: Ich halte das nicht für den Hauptgrund. Natürlich verbindet sich mit Sewastopol für Russland, vor allem für das russische Militär, ein symbolischer Wert. Dort war immer die Heimat der russischen Schwarzmeerflotte. Aber strategisch hatte der Hafen schon vor 2014 an Bedeutung verloren, weil Teile der Flotte schon seit längerer Zeit in Noworossijsk stationiert sind.

Zudem gab es ja für die russischen Truppen auf der Krim einen Stationierungsvertrag, der bis 2042 Gültigkeit hatte. Mit dem Machtwechsel vor vier Jahren wäre es nicht zwingend gewesen, dass der Vertrag gekündigt worden wäre. Man hätte ihn vielleicht modifiziert, die Stationierungskosten erhöht, die Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt oder Ähnliches. Aber wer hätte denn die russische Armee aus Sewastopol entfernen wollen?

Meiner Meinung nach hatte das russische Eingreifen auf der Krim geostrategische Hintergründe. Dazu zählt beispielsweise viel stärker als Sewastopol die Meerenge von Kertsch, mit deren Besitz der Zugang zum Asowschen Meer jetzt völlig unter russischer Kontrolle ist. Eines wollte Russland tatsächlich verhindern: Und zwar, dass die Meerenge unter Kontrolle der Nato fällt und dann US-Schiffe unkontrolliert in das Asowsche Meer hätten kommen können. Bereits Ende der 1990er Jahre gab es Auseinandersetzungen zwischen der Ukraine und Russland um einige Inseln und Halbinseln in dieser Meerenge von Kertsch, wo es eben auch darum ging, wer die Kontrolle über die Zufahrt ins Asowsche Meer hat. Das hatte und hat für Russland strategische Bedeutung.

Und dann muss man auch sagen, die Krim war immer ein besonderes Territorium innerhalb der Sowjetunion oder Russlands. Sie hatte mit der Ukraine nie viel zu tun. Ich war zuletzt Anfang der 2000er Jahre auf der Krim. Und damals sah es dort sehr schlecht aus. Die Bauten verfielen größtenteils, weil die Ukraine nicht das Geld hatte, die historischen Gebäude und anderes zu unterhalten. Es hätte einer Übereinkunft bedurft, das dort gemeinsam zu finanzieren. Aber das ist jetzt vorbei und ich sehe keine Möglichkeit, dass die Krim auf absehbare Zeit wieder zur Ukraine zurückkommt. Dazu müsste sich das internationale Kräfteverhältnis völlig ändern.

"Weder Russland noch die Ukraine haben Interesse an einem Ende des Donbass-Konflikts"

Dann gibt es ja noch den Kampf um den Donbass. Was müsste denn dort jetzt passieren, um diesen Konflikt zu lösen?

Manfred Schünemann: Es müssten erstmal beide Seiten das Interesse haben, zu einer Konfliktregulierung zu kommen. Und das besteht eben nicht. Die Ukraine benutzt den Donbass-Konflikt zur inneren Konsolidierung - so widersprüchlich das klingt. Aber alle Befragungen sprechen dafür, dass diese Wunde immer wieder als solche empfunden wird. Die Bevölkerung befindet sich dadurch dazu bereit, die Opfer und die Belastungen zu tragen. Also er ist Teil dieser nationalistischen Stimmung, die gefördert wird.

Man braucht diesen Konflikt im Prinzip um zu sagen: "Wir können ja nicht mit Russland weil die dort mitmischen und wir können nicht akzeptieren, dass Russland im Donbass seine Politik macht." Das ist also Teil des politischen Spiels der Ukraine, die von daher kein wirkliches Interesse an einer Lösung hat.

Der Donbass war mit seinen Kohlengruben schon immer eine große ökonomische Belastung, weil der Abbau unrentabel ist. Die Stahlproduktion ist wichtig, ja, aber dafür kann man in anderen Teilen der Ukraine Ausweichmöglichkeiten finden. Russland hat auch kein großes Interesse an einer Lösung des Konflikts, weil damit die Ukraine geschwächt bleibt politisch, wirtschaftlich, international. Und weil der Konflikt immer ein Mittel ist, um Einfluss zu nehmen auf die inneren Widersprüche der Ukraine.

Trotzdem wollen beide Seiten, dass das Blutvergießen ein Ende hat. Das wird dazu führen, dass die Waffenruhe wirklich hält. Das ist Voraussetzung um die anderen in Minsk vereinbarten Punkte zu erfüllen. Das dauert aber noch längere Zeit und wird nicht von heute auf morgen geschehen.

Der Titel Ihres Buches lautet "Zerbricht die Ukraine?" Wie beantworten Sie diese Frage?

Manfred Schünemann: Die ukrainische Gesellschaft ist natürlich nicht geeint. Aber ich glaube nicht, dass die Ukraine als Staat zerbrechen wird. Dafür sprechen die Meinungsumfragen. Die Haltung zum Staat wird ja jedes Jahr zum Unabhängigkeitstag erfragt. Die Zustimmung liegt immer bei rund 90 Prozent und das ist so wie 1991, als es das Referendum gab.

Die Masse der Bevölkerung ist weiterhin für die Unabhängigkeit. Aber Aufgabe für die Ukraine bleibt - egal welche politischen Kräfte das Sagen haben -, eine Klärung des Verhältnisses zu Russland herbeizuführen. Denn ohne einen Ausgleich mit Russland wird die Ukraine nie eine stabile Entwicklung nehmen können, weil einfach die Kontakte und mentalen Bindungen viel zu groß sind.

Eine dauerhafte Abgrenzung oder gar eine militärische Konfrontation mit Russland wäre für die Ukraine eine tödliche Gefahr für ihre nationalstaatliche Existenz. Über einen längeren Zeitraum müssen deshalb die ukrainischen Eliten zu einem Ausgleich mit Russland kommen, wenn sie denn die Interessen ihres Landes verfolgen wollen. Russland, der Westen und die gesamte internationale Gemeinschaft sollten im Interesse des Friedens und der Sicherheit in Europa diese notwendigen Prozesse in der Ukraine begleiten und unterstützen.