Die Katholische Kirche und Missbrauch: Es nicht genau wissen wollen

Seite 3: Die Geschichte wiederholt sich

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Wenn man sich die Äußerungen von Bischöfen und Verantwortlichen der katholischen Kirche ab dem Januar 2010 anschaut, fallen viele Parallelen zu Holst Äußerungen aus dem Jahr 2002 auf: Fehler werden zumeist der Vergangenheit zugeordnet: Früher sei einiges schief gelaufen, aber spätestens 2010 habe man gelernt; und zwar dass die Opfer und ihre Bedürfnisse an erster Stelle stehen müssen, dass man die eigenen Leute nicht vor Strafverfolgung schütze und transparent mit Vorwürfen umgehe - oder um das Bild von Holsts Nachfolger Heinz-Günter Bongartz zu zitieren

Wir gehen in der Spur des Opfers.

Den Lernprozess, den man angeblich 2010 durchlaufen hat, hatte man auch schon 2002 hinter sich gewähnt. Leider belegen auch die jüngsten Veröffentlichungen um Peter R. dass die Illusion der Besserung alleine nicht ausreicht.

Anfang 2010 ist der Hildesheimer Bischof Norbert Trelle dem Vorbild des damaligen Canisius-Rektors, Klaus Mertes, gefolgt und hat Menschen, die Opfer sexueller Übergriffe geworden sind, ermuntert sich beim Bistum zu melden.

So führt der Bericht des damaligen Missbrauchsbeauftragten, Heinz-Günter Bongartz, vom 18. Juni 2010 Meldungen von 71 Menschen aus dem ersten Halbjahr 2010 auf. Zwei davon betreffen auch Peter R.: Da ist aber nicht das junge Mädchen dabei, die in der ARD-Dokumentation sprach. Deren Bericht im März 2010 wurde ja nicht als Missbrauch gewertet: Die Pressestelle des Bistums erklärt vielmehr, das eine Meldung von einer Mitarbeiterin des Bistums stamme, die angegeben habe, von Peter R. 1991 sexuell belästigt worden zu sein.

Außerdem habe eine Frau den Hinweis gegeben, dass bei einer Jugendfreizeit 1988/89 ein Mädchen auf dem Schoß von Peter R. gesessen habe. Schon im Bericht von Andrea Fischer zum Missbrauch durch Jesuiten konnte man lesen: "Beide Personen waren nicht bereit, diese Vorwürfe in einer Konfrontation mit Peter R. zu wiederholen. Seitens des Bistums wurde ein Gespräch mit Peter R. geführt, er hat die Vorwürfe bestritten."

Das Bistum bestätigt diese Darstellung - und Ursula Enders von Zartbitter Köln ist entsetzt:

Eine Gegenüberstellung von Betroffenen mit einem des Missbrauchs beschuldigten Seelsorger ist ein unverantwortliches Vorgehen, das ein hohes Risiko einer Retraumatisierung von Opfern birgt.

Dies Vorgehen lasse jegliches menschliches Einfühlungsvermögen vermissen und nehme zusätzliches Leid für die Betroffenen in Kauf. Und die Traumatherapeutin ergänzt, das dies auch den Vorgaben der Deutschen Bischofskonferenz für einen achtsamen Umgang mit Betroffenen widerspreche.

Meldet Euch doch!

Aber auch im Falle des 14-jährigen Mädchens, das sich im März 2010 ins Generalvikariat traute, hat es der damalige Missbrauchsbeauftragte mit den Leitlinien nicht so genau genommen: Wie das Bistum inzwischen einräumte, berichtete nicht nur das Mädchen von dem Übergriff durch Peter R., sondern Diakon Wilfried Otto äußerte am selben Tag in einem Telefonat mit dem Personalchef und Missbrauchsbeauftragten Bongartz den Verdacht, dass wahrscheinlich auch die Mutter des Mädchens von Peter R. sexuell belästigt worden sei.

In der WDR-Dokumentation, die aktuell, am 27. Januar 2016, ausgestrahlt wurde, berichtete diese Mutter nicht nur von dem Missbrauch durch Peter R, sondern sie vermerkte zugleich, dass sich bisher noch niemand vom Bistum bei ihr gemeldet habe. Sie ärgere sich, dass "die das als Pillepalle abtun".

Sexuelle Übergriffe seien ein wichtiges Thema, über das man reden solle - "und die machen das halt nicht." Die Bistumsleitung verteidigt sich, dass sie sowohl im März 2010, wie bei einem späteren Treffen mit den Großeltern der inzwischen jungen Frau, darauf hingewiesen hätten, dass sich doch auch die Mutter bei der Missbrauchsbeauftragten melden solle.

In den spät angefertigten Ausführungsbestimmungen zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch des Bistums Hildesheim ist aber ein anderes Verhalten vorgesehen, nämlich hinzugehen zu den mutmaßlichen Opfern und nicht zu warten, bis diese kommen: "Sobald der Bischöfliche Beauftragte von einem Vorwurf oder einem Verdacht sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Geistliche im Dienst des Bistums Hildesheim erfährt" - allein der Verdacht reicht - habe er ein Gespräch mit dem Beschuldigten zu führen und:

Ebenfalls sofort und unmittelbar nimmt der Bischöfliche Beauftragte Kontakt zum Opfer (ggf. zu den Sorgeberechtigten) auf. Nach Möglichkeit sucht er unter Hinzuziehung eines Mitglieds des Beraterstabes das Gespräch.

Von daher verwundert es, dass Bischof Norbert Trelle bei der Pressekonferenz nach Ausstrahlung der ARD-Dokumentation Anfang Dezember meinte, die Eltern der jungen Frau verschwänden für ihn "irgendwo im Hintergrund, im Dunkel. Ob sie überhaupt noch in Hildesheim leben oder nicht, und ob man überhaupt an sie herankommt, das kann ich auch nicht sagen."

Es wäre keineswegs ein aussichtsloser Job seiner Leute gewesen, den Kontakt zur Mutter über die Großeltern herzustellen.

Kein Missbrauch - keine Verantwortung

Aber man konnte den Eindruck gewinnen, dass es Trelle bei der Pressekonferenz eher darum ging, seine Verantwortung bzw. die des Bistums kleinzureden: Wenn irgendwo in einem Sportverein ein Missbrauchsskandal entstehe und es "Beschuldigungen in alle Richtungen" gebe, könne man doch nicht sagen, dass der Verein jetzt sämtliche Therapiekosten übernehmen müsse:

Sondern man wird sich an die Beschuldigten halten, an ordentliche Strafverfahren.

Damit begründete Trelle, dass das Bistum keine Entschädigung an die junge Frau gezahlt hatte, die müsse sie vor einem weltlichen Gericht vom Täter erstreiten.

Der Vergleich mit dem Sportverein ist zumindest gewagt, wenn man bedenkt, was die Kirche über den Priester als besonderen Repräsentanten Christi lehrt. Auch misst das Kirchenrecht dem Bischof weit mehr Vollmachten und damit Verantwortung zu als einem Vereinsvorstand.

Aber auch wenn man die Theologie außen vor lässt: Die sogenannten Anerkennungszahlungen, die über eine Koordinierungsstelle der Deutschen Bischofskonferenz abgewickelt werden, sind in der Tat auf die Fälle beschränkt, in denen Schmerzensgeld oder Schadenersatzansprüche nicht mehr gerichtlich durchsetzbar sind.

Aber in der Einleitung zur Vereinbarung dieser Zahlungen schreibt die Deutsche Bischofskonferenz:

Um Opfer nicht auf einen möglicherweise langwierigen und kostspieligen Rechtsweg zu verweisen, soll bei nicht verjährten Schadensersatz- und Schmerzensgeldforderungen von den jeweils betroffenen kirchlichen Körperschaften eine außergerichtliche Einigung mit den Anspruchstellern angestrebt werden.

Nachdem eine Nachfrage zu diesem Thema der Pressestelle des Bistums Hildesheim vorlag, erklärte diese Mitte Januar, dass man der jungen Frau eine Anerkennungszahlung geleistet habe. Es waren 4.000 Euro.